Welcher Lohn soll gelten?
16.04.2024 PolitikWas hat mehr Gewicht: eine kantonale Volksabstimmung oder ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV)? Geht es nach Wirtschaftsverbänden und dem nationalen Parlament, soll der GAV den Vorrang haben. Doch Gewerkschaften und Kantone laufen Sturm gegen diese Interpretation. Auch der Berner ...
Was hat mehr Gewicht: eine kantonale Volksabstimmung oder ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV)? Geht es nach Wirtschaftsverbänden und dem nationalen Parlament, soll der GAV den Vorrang haben. Doch Gewerkschaften und Kantone laufen Sturm gegen diese Interpretation. Auch der Berner Regierungsrat wehrt sich.
MARK POLLMEIER
Mitte März veröffentlichte die Berner Kantonsregierung eine kurze Medienmitteilung: «Vernehmlassung des Bundes zur Änderung des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen». Der Titel im schönsten Behördendeutsch animierte nicht gerade zum Weiterlesen. Doch der Inhalt der Mitteilung ist brisant: Es geht um die Grundsätze des Schweizer Föderalismus. Doch der Reihe nach.
Wie souverän sind die Kantone?
Im Schweizer Arbeitsrecht haben die Kantone die Kompetenz, sozialpolitische Massnahmen zu erlassen – zum Beispiel Mindestlöhne festzulegen, flächendeckend oder zumindest für bestimmte Branchen. Geschehen ist dies bereits in den Kantonen Neuenburg, Jura, Tessin, Genf und Basel-Stadt. Nach heutiger Rechtslage müssen Arbeitgeber ihren Angestellten diese kantonalen Mindestlöhne zahlen – auch dann, wenn in einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) tiefere Löhne vereinbart wurden. Doch eine geplante Gesetzesänderung, die noch bis zum 1. Mai in der Vernehmlassung ist, soll dies ändern. Künftig sollen die Mindestlöhne, die in einem GAV festgelegt sind, allgemeinverbindlich sein – selbst dann, wenn sie tiefer sind als die kantonalen Mindestlöhne.
An dieser Stelle wird es nun interessant. Die Verteilung von Macht und Zuständigkeiten spielt im Schweizer Föderalismus eine grosse Rolle. Gleich am Anfang der Bundesverfassung, nämlich schon in Artikel 3, wird das Zusammenspiel von Bund und Kantonen geregelt. «Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind», heisst es dort.
Wendet man diesen Grundsatz auf die Lohnfrage an, so müssten die kantonalen Mindestlöhne Vorrang haben vor Gesamtarbeitsverträgen. Und eine Gesetzesänderung, die diese Rangfolge umkehren will, verstiesse eigentlich gegen diesen Artikel 3 der Bundesverfassung.
Problematisch für die Demokratie
So sieht es offenbar auch der Berner Regierungsrat. «Die geplante Gesetzesänderung greift direkt in die verfassungsrechtlich garantierte Souveränität der Kantone ein», heisst es in der eingangs erwähnten Mitteilung. «Der Regierungsrat ist gegen diese Verletzung der geltenden Kompetenzteilung zwischen Bund und Kantonen.»
Der Regierungsrat ist mit dieser Haltung nicht allein. Per Gesetz die Souveränität der Kantone auszuhebeln – diesen Vorgang findet auch der Bundesrat heikel. Als der Vorstoss vor zwei Jahren im Ständerat diskutiert wurde, sagte Wirtschaftsminister Guy Parmelin, er halte das Ansinnen für «problématique du point de vue de la démocratie et du fédéralisme» («für problematisch mit Blick auf die Demokratie und den Föderalismus»).
National nein, kantonal ja
Um zu klären, wie dieser «problematische» Vorschlag eigentlich zustande kam, muss man zurückblicken ins Jahr 2014. Damals, am 18. Mai, lehnte das Schweizer Stimmvolk die nationale Volksinitiative «Für den Schutz fairer Löhne» (Mindestlohn-Initiative) mit über 76 Prozent Nein-Stimmen ab. Arbeitgeber- und Gewerbeverbände waren erleichtert – ein nationaler Mindestlohn hätte ihre Kosten in die Höhte getrieben. Doch das Thema war mit der Abstimmung nicht vom Tisch. Insbesondere in der Westschweiz gab es schon länger die Bestrebung, Mindestlöhne einzuführen. Manche Kantonsparlamente hatten sie nur deshalb noch nicht beschlossen, weil sie erst die nationale Abstimmung abwarten wollten.
Nur wenige Tage, nachdem der schweizweite Mindestlohn gescheitert war, stimme der Grosse Rat des Kantons Neuenburg dafür, einen kantonalen Mindestlohn einzuführen – so wie es das Neuenburger Stimmvolk schon 2011 gefordert hatte.
Einführung durch die Hintertür
Für Arbeitgeberverbände war der Neuenburger Entscheid ein rotes Tuch, denn er bedeutete, dass nun quasi durch die Hintertür doch noch Mindestlöhne eingeführt werden können – Löhne, die in einigen Branchen höher lagen als jene in den GAV. Das wollte man nicht hinnehmen.
Auf juristischem Weg versuchten Neuenburger Arbeitgeberverbände durchzusetzen, dass ein GAV stets Vorrang vor dem kantonalen Mindestlohn hat. Ihre Argumentation: Die Politik dürfe sich nicht in die Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern einmischen. Mit politischen Entscheiden wie jenem in Neuenburg werde die bewährte Sozialpartnerschaft ausgehebelt – und das verstosse letztlich gegen Bundesrecht. Doch das Bundesgericht, vor dem der Fall landete, sah es anders: Der Einwand der Beschwerdeführer, dass das Bundesrecht den Kantonen keinen Platz für die Festlegung von Minimalsalären lasse, sei nicht zutreffend, so das Diktum der Lausanner Richter. Die Kantone dürften nach eigenem Ermessen sozialpolitische Massnahmen einführen – und der Neuenburger Mindestlohn sei ein Mittel zur Bekämpfung der Armut und damit sozialpolitisch begründet.
Die Politik wird aktiv
Mit dem Entscheid des Bundesgerichts vom 21. Juli 2017 hätte die Sache eigentlich geklärt sein können. Doch nicht alle wollten sich damit abfinden. Arbeitgeberverbände sprachen von einem politisch motivierten Fehlurteil und beharrten darauf, dass die kantonalen Mindestlöhne gegen Bundesrecht verstossen würden. Und auch in der Politik regte sich Widerstand. Im September 2018 reichte der Urner Nationalrat Isidor Baumann (damals EVP, heute Die Mitte) eine Motion ein. Seine Forderung: Die Bestimmungen des allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrags sollten Vorrang haben vor sämtlichen Bestimmungen der Kantone.
Der Bundesrat gab zwar zu, dass kantonale Mindestlöhne «zu Spannungen in einzelnen Gesamtarbeitsverträgen» führen könnten. Das aber rechtfertige keinen möglicherweise weitreichenden Eingriff, wie der Motionär ihn verlangte. Die Motion wurde abgelehnt.
Doch im Dezember 2020 startete der Obwaldner Ständerat Erich Ettlin (Die Mitte) einen neuen Versuch, den GAV für allgemeingültig zu erklären. Seine Motion entsprach fast wörtlich derjenigen seines Kollegen Baumann zwei Jahre zuvor: Die Bestimmungen von Gesamtarbeitsverträgen müssten gegenüber anderslautenden Bestimmungen der Kantone Vorrang haben.
Erneut beantragte der Bundesrat die Ablehnung der Motion, denn an der Rechtslage hatte sich ja nichts Grundlegendes geändert. Doch siehe da: Das Parlament entschied diesmal anders. Sowohl der Stände- als auch der Nationalrat nahmen die Motion Ettlin an. Was war geschehen?
Die Lobbyarbeit der Verbände
Verschiedene Arbeitgeberverbände, die sich mit den kantonalen Mindestlöhnen nie abgefunden hatten, dürften die Zeit seit der ersten Motion fleissig für Lobbyarbeit genutzt haben. Ständerat Erich Ettlin macht denn auch überhaupt keinen Hehl daraus, auf wessen Wunsch er seine Motion eingereicht hat. Vertreter der Gastro- und Coiffeurbranche seien auf ihn zugekommen, gestand er freimütig, als er vom Onlinemagazin «Republik» zu seinen Motiven befragt wurde.
Nichts gegen die Coiffeurbranche, aber das eigentliche Schwergewicht in Sachen GAV ist der 20 000 Mitglieder starke Verband GastroSuisse mit seinem Präsidenten Casimir Platzer. Der Kandersteger Hotelier bekämpft die kantonalen Mindestlöhne seit Jahren, unter seiner Ägide hatte GastroSuisse die Verhandlungen über einen neuen GAV für die Gastrobranche ausgesetzt. Die Begründung: Erst müsse die Sache mit den Mindestlöhnen geklärt sein – am besten natürlich im Sinne der Arbeitgeber.
Die Chance dafür scheint nun gekommen. Zusammen mit über 25 anderen Wirtschafts- und Branchenverbänden weibelt GastroSuisse für die Annahme der Motion Ettlin. Interessant: Auch Casimir Platzer hat bei diesem Thema staatspolitische Bedenken – allerdings andere als der Berner Regierungsrat und viele andere Kantonsregierungen. Aus Sicht des GastroSuisse-Präsidenten zeugt die Forderung nach kantonalen Mindestlöhnen «von schlechtem Demokratieverständnis», wie er vor einigen Tagen in einem Interview mit der Schweizerischen Gewerbezeitung sagte. Dass die Gewerkschaften sich für Mindestlöhne aussprächen, wecke Zweifel daran, «wie sehr sie noch hinter der Sozialpartnerschaft stehen».
«Mit allen nötigen Mitteln bekämpfen»
GastroSuisse und den anderen Branchenverbänden geht es ums Prinzip: Was ist ein GAV noch wert, wenn er jederzeit von kantonalen Mindestlöhnen übersteuert werden kann? Auf Prinzipien pochen aber die Kantone: Was sind kantonale Abstimmungen noch wert, wenn der Bund sie mit einer Gesetzesänderung für nichtig erklären kann?
Letztlich läuft es auf die Frage hinaus, was höher zu gewichten ist: kantonale oder kommunale Volksentscheide – oder die Wirtschaftsfreiheit, die in Artikel 27 der Verfassung garantiert ist?
Das eidgenössische Parlament hat Letzteres offenbar höher gewichtet. Der Vorrang der Gesamtarbeitsverträge gegenüber kantonalen und kommunalen Mindestlöhnen stärke den «Arbeitsfrieden» im Lande, hiess es. In Kauf nahm das Parlament dabei, dass der politische Friede empfindlich gestört wird. Stadtund Kantonsregierungen reagierten im Rahmen der Vernehmlassung ausgesprochen pikiert auf den Entscheid aus Bundesbern.
Auf den Bundesrat, der dem Parlament nach Abschluss der Vernehmlassung einen Gesetzesentwurf vorlegen muss, kommt also eine schwierige Aufgabe zu – mit politischem Widerstand ist fast sicher zu rechnen, unter anderem aus Gewerkschaftskreisen. «Die faktische Abschaffung der kantonalen Souveränität über die Definition von Mindestlöhnen wäre ein Verfassungsbruch», befand der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) und drohte bereits an: «Der SGB wird die Vorlage mit allen nötigen Mitteln bekämpfen und die kantonalen Mindestlöhne verteidigen.»
Wo gibt es Mindestlöhne, wo sind sie geplant?
Bereits eingeführt wurden Mindestlöhne in den Kantonen Neuenburg, Jura, Genf, Tessin und Basel-Stadt. Sie gehen jeweils zurück auf die Annahme einer kantonalen Volksinitiative. Auch die Städte Zürich und Winterthur sagten zu ähnlichen Initiativen Ja, die Einführung verzögert sich jedoch wegen Einsprachen von Arbeitgeberverbänden. Mindestlohn-Initiativen werden derzeit diskutiert oder sind schon lanciert in den Kantonen Solothurn, Basel-Landschaft, Freiburg, Waadt und Wallis sowie in den Städten, Luzern, Biel und Bern. In Bern wurde kürzlich die Initiative «Ein Lohn zum Leben» lanciert, die einen Mindestlohn von 23,80 Franken pro Stunde fordert.
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Die Rechtslage
• Artikel 110,2 Bundesverfassung:
Gesamtarbeitsverträge dürfen nur allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn sie begründeten Minderheitsinteressen und regionalen Verschiedenheiten angemessen Rechnung tragen und die Rechtsgleichheit sowie die Koalitionsfreiheit nicht beeinträchtigen.
• Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid zum Mindestlohn im Kanton Neuenburg die kantonale Gesetzgebungskompetenz anerkannt, sofern die Massnahme auf die Bekämpfung der Armut abzielt und keine wirtschaftspolitische Massnahme oder eine Massnahme zum Schutz des Arbeitnehmers darstellt (denn das läge nicht in der Kompetenz des Kantons). In der Praxis bedeutet dies, dass die Höhe des Mindestlohns auf einem Niveau liegen muss, das in der Nähe jenes Mindesteinkommens liegt, das sich aus den Sozialversicherungs- oder Sozialhilfesystemen ergibt.
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Welche Auswirkungen haben Mindestlöhne auf den Arbeitsmarkt?
Die Befürchtung der Arbeitgeberseite Darüber hinaus könnte die Zahl arist stets, dass Mindestlöhne wegen der beitssuchender junger Menschen laut damit verbundenen höheren Kosten zu Studienergebnis zunehmen, da der Ar-Firmenpleiten führen – und damit letztbeitsmarkt für sie dank höheren Löhlich zu mehr Arbeitslosigkeit. Zuminnen attraktiver wird. dest eine Studie zur Entwicklung im Pierre-Alain L’Hôte, der Präsident des Kanton Genf widerlegt diese Annahme. Genfer Gewerbeverbandes, wies dar-Im Auftrag der Genfer Kantonsregieauf hin, dass nur rund sieben Prozent rung hatte eine Expertengruppe unterder Arbeitnehmenden dank Mindestsucht, wie sich der Arbeitsmarkt nach lohn heute mehr verdienten als früher. Einführung des Genfer Mindestlohns Aber: «Die Risiken haben sich für uns Ende 2020 entwickelte. Das Ergebnis: Unternehmer erhöht.»
Ein nennenswerter Effekt auf die Ar-Der Genfer Mindestlohn ist mit aktuell beitslosenquote war nicht feststellbar. 24,32 Franken pro Stunde der höchste Lediglich die Arbeitslosenquote der der Welt. Ob jemand, der ihn erhält, in unter 25-Jährigen scheint etwas höher einer Stadt wie Genf über die Runden zu sein, als sie es ohne die Einführung kommen kann, ist eine andere Frage. des Mindestlohns wohl gewesen wäre.
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Welche Lohnauswirkungen hätte es, wenn der GAV Vorrang hätte?
Es gibt verschiedene Berechnungen dazu, wie sich die Umsetzung der Motion Ettlin auswirken würde. Dabei gilt: Je höher ein kantonaler Mindestlohn ist, desto grösser sind die Auswirkungen auf das Einkommen betroffener Berufsgruppen. So würde eine Coiffeurin im Kanton Genf (24,32 Franken pro Stunde) mehrere Hundert Franken pro Monat einbüssen. Der Mindestlohn für gelernte Coiffeur-Angestellte gemäss schweizweitem GAV beträgt 21,62 Franken.
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