Wenn die Hand schneller ist als der Kopf
29.04.2025 JustizWegen Schändung und einer sexuellen Handlung mit einem Kind hat das Regionalgericht Oberland vergangene Woche einen jungen Erwachsenen zu einer bedingten, neunmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Schwerer als die Strafe wiegt das lebenslängliche Tätigkeitsverbot mit ...
Wegen Schändung und einer sexuellen Handlung mit einem Kind hat das Regionalgericht Oberland vergangene Woche einen jungen Erwachsenen zu einer bedingten, neunmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Schwerer als die Strafe wiegt das lebenslängliche Tätigkeitsverbot mit Kindern und Jugendlichen.
Auf dem Beschuldigtenstuhl im Gerichtssaal 5 sass am vergangenen Donnerstagmorgen ein selbstbewusster junger Mann. Auf den Zuschauerplätzen hatte eine Gruppe von Rechtsstudierenden der Universität Bern Platz genommen, die die Verhandlung aus Studieninteresse verfolgten.
Gleich zu Beginn der Befragung gab der Angeklagte zu, dass er im März 2024 in einer Skihütte im Frutigland «einen Blödsinn» gemacht hatte.
Laut und deutlich bestätigte er den in der Anklageschrift beschriebenen Vorwurf, wonach er als Begleitperson bei einem Skiwochenende seines Vereins im Massenlager einem neben ihm liegenden, 15-jährigen Buben mitten in der Nacht an den Penis gefasst hatte. Dies geschah durch den Schlafsack und dauerte maximal ein bis zwei Minuten. Der Minderjährige wachte auf, drehte sich zur Seite, und der Beschuldigte zog seine Hand zurück.
Das Strafverfahren kam ins Rollen, weil der Bub am nächsten Tag den Sachverhalt seinen Eltern schilderte und der Vater gegen die Begleitperson Strafanzeige einreichte. Vor Gericht wollte der Beschuldigte keinen konkreten Grund angeben, weshalb er seinen Bettnachbarn im Geschlechtsbereich gestreichelt hatte.
Eine bereits von den Ermittlungsbehörden gestellte Frage, ob er sich zu jungen Buben hingezogen fühle, verneinte er nicht explizit. Gegenüber dem Gerichtspräsidenten gab er verklausuliert an, «etwas ausprobiert zu haben, um die Reaktion des Buben zu testen».
Zu einem geflügelten Wort wurde während der Verhandlung seine ironische Ausrede, dass «seine Hand schneller war als sein Kopf».
Schändung und Pornografie
In der Anklageschrift warf die Staatsanwaltschaft dem Beschuldigten vor, den schlafenden Buben in Kenntnis von dessen Alter in sexueller Absicht geschändet zu haben.
Eine Schändung begeht, wer die sexuelle Integrität einer urteilsunfähigen oder zum Widerstand unfähigen (zum Beispiel schlafenden) Person verletzt. Da die Tat im März 2024 geschah, berief sich die Staatsanwaltschaft auf den bis Ende Juni 2024 geltenden alten Straftatbestand.
Der zweite Vorwurf lautete auf «Sexuelle Handlung mit einem Kind». Und drittens hatten die Ermittlungsbehörden auf dem beschlagnahmten Mobiltelefon des Beschuldigten zwei Videos und ein Foto mit sexuellen Inhalten gefunden, was zu einem dritten Anklagepunkt wegen mehrfach begangener Pornografie führte.
In ihrem Antrag forderte die Staatsanwaltschaft eine zehnmonatige, bedingte Freiheitsstrafe, eine bedingte Geldstrafe von 1300 Franken sowie eine unbedingte Busse von 260 Franken, zuzüglich den Untersuchungskosten und Gebühren in der Höhe von 2905 Franken sowie den Verfahrenskosten. Wie in solchen Fällen üblich, beantragte die Staatsanwaltschaft ein lebenslängliches Tätigkeitsverbot mit Kindern und Jugendlichen.
Zweifel am Vorsatz
Die amtliche Verteidigerin des Angeklagten stellte sich in ihrem Plädoyer auf den Standpunkt, dass die Voraussetzungen für einen Schuldspruch wegen Schändung nicht erfüllt sind. Ihr Mandant habe nicht aus sexuellen Motiven, sondern im Halbschlaf gehandelt. Deshalb fehle ihm der Vorsatz für die strafbare Handlung.
Die auf dem Mobiltelefon gespeicherten Videos und das Foto seien nicht zweifelsfrei als «pornografisch» zu qualifizieren. Ein lebenslängliches Tätigkeitsverbot, so die Rechtsanwältin, sei nicht verhältnismässig, da es sich nur um einen sehr kurzen Vorgang gehandelt und der Beschuldigte sich beim Opfer entschuldigt habe. Ein lebenslängliches Tätigkeitsverbot würde, so die Anwältin, das Leben des jungen Mannes «über den Haufen werfen». Nach einer gut einstündigen Beratungszeit eröffnete der Gerichtspräsident kurz vor Mittag das Urteil und begründete es mündlich.
Bedingte Freiheitstrafe und Tätigkeitsverbot
Den alten Straftatbestand der Schändung und den noch geltenden Artikel der sexuellen Handlung mit Kindern sah er als erfüllt, weil er zur Überzeugung gelangt war, dass der Beschuldigte die sexuelle Handlung (Penismassage) in voller Kenntnis des Schlafzustands des Buben vorgenommen hatte und gemäss Aufzeichnung seiner Apple-Watch zum fraglichen Zeitpunkt auch wach gewesen war.
Eine «sexuelle Absicht» sei, so der Richter, trotz fehlender Erinnerung nicht von der Hand zu weisen. Mit einer neunmonatigen Freiheitsstrafe, befristet auf zwei Jahre, liegt das Urteil leicht unter dem Antrag der Staatsanwältin. Für die pornografischen Videos sprach das Gericht eine bedingte Geldstrafe in der Höhe von 2800 Franken aus. Die Untersuchungs- und Gerichtskosten belaufen sich auf 4555 Franken.
Keinen Ermessenspielraum hatte das Gericht bei der ausgesprochenen Massnahme: Laut Gesetz ist ein lebenslängliches Tätigkeitsverbot mit Kindern und Jugendlichen im Fall eines Schuldspruchs wegen einem Sexualdelikt mit Minderjährigen zwingend. So wollte es der Souverän in der entsprechenden Volksabstimmung vom 18. Mai 2014. Die Volksinitiative «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen» war mit einem Ja-Anteil von 63,8 Prozent (Stimmbeteiligung: 56,2 Prozent) angenommen worden. Das Urteil des Regionalgerichts ist noch nicht rechtskräftig.
Kritik am fehlenden Ermessensspielraum
Ein zwingendes, lebenslanges Tätigkeitsverbot für berufliche sowie ehrenamtliche Arbeit mit Minderjährigen oder abhängigen Personen steht nach Auffassung von Kritikern im Widerspruch zum in der Bundesverfassung verankerten Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Zudem schützt die Massnahme Kinder und Jugendliche ausschliesslich in Lehrbetrieben, Schulen, Betreuungseinrichtungen und Vereinen. Die meisten sexuellen Übergriffe geschehen jedoch im privaten Bereich. Sie werden nicht von verurteilten Straftätern begangen, sondern von Angehörigen und Bekannten.
PETER SCHIBLI