Kolumne – ZWISCHEN BERN UND BERG
05.08.2025 KolumneAm 1. August fällt mir immer die Geschichte ein, wie ich vor Jahren im Gespräch mit einem Regierungsbeamten einen Nestlé-kritischen Dokumentarfilm lobte («Bottled Life»). Mein Gegenüber war entsetzt, das sei ein «Nestbeschmutzer-Film!» Offenbar fand ...
Am 1. August fällt mir immer die Geschichte ein, wie ich vor Jahren im Gespräch mit einem Regierungsbeamten einen Nestlé-kritischen Dokumentarfilm lobte («Bottled Life»). Mein Gegenüber war entsetzt, das sei ein «Nestbeschmutzer-Film!» Offenbar fand er, eine der grössten Schweizer Firmen dürfe man nicht kritisieren, weil: In unserem Nest ist alles gut.
Ich war für einen Moment sprachlos, und das illustriert mein alljährliches Unbehagen an unserem «Nationalfeiertag». Ja, ich bin Schweizer, geprägt davon, dass ich hier aufgewachsen bin, in diesem System lebe und seine Mitgestaltungsmöglichkeiten nutze. Aber deswegen empfinde ich keine Loyalitätspflicht gegenüber unserem Staat und seiner Wirtschaft, im Gegenteil: Gerade, weil es auch «mein» Staat ist, fühle ich mich berechtigt (und verpflichtet), seine Aktivitäten und Haltungen kritisch zu hinterfragen.
Und dabei bleibe ich meist an der gleichen Frage hängen: Wer sind «wir»?
Die Antwort scheint einfach im Kleinen, aber zunehmend schwierig, sobald der Radius grösser wird: Die Familie sind «wir». Die regionale religiöse Gemeinschaft, an der man regelmässig teilnimmt, sind «wir». Die Vereine, bei denen ich mitmache, sind «wir». Dann wird es wackliger: Fühle ich mich allen Menschen in meinem Dorf verbunden? Allen im Kanton Bern? In der Schweiz? In Europa? Im Nordwesten? Oder ist es eine Frage der Hautfarbe? Der Sprache? Des Musikgeschmackes? Wer sind «wir»? Vor ein paar Hundert Jahren gab es nur das «kleine Wir»: Familie und Dorfgemeinschaften. Wenn adlige Familien (und Klöster) ganze Landstriche durch Verkauf oder die Verheiratung einer Cousine unter eine andere Herrschaft stellten, war das für die Menschen in den Dörfern vermutlich kein Identitätsproblem: Die Identität war durch das unmittelbare Umfeld bestimmt, nicht durch die Herrschaft.
Mit der Erfindung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert (ich erlaube mir die historische Vereinfachung…) wurden diese Fragen plötzlich gross – und innert kürzester Zeit brandgefährlich. In dieser National-Theorie wurde ein (oftmals grosses) Territorium nun auch durch ein bestimmtes «Volk» definiert. Das waren nicht einfach die stimmberechtigten Anwesenden. Es wurde eine «nationale Identität» zelebriert, welche durch eine oftmals zurechtgeschusterte «gemeinsame» Volksgeschichte und -kultur definiert sei. Sofort wurden die Trennungslinien schärfer: Wer gehört noch zum «Wir»? Und was muss erfüllt sein, um dazuzugehören? Politische Kräfte profilieren sich mit ihrer Definition des «Wir». Aber in einer Welt, in der die Menschen und Völker seit Jahrtausenden immer in Bewegung sind, mal mehr, mal weniger, wird das dem Ganzen einfach nicht gerecht, insbesondere nicht dort, wo sich in einer Region durch die Jahrhunderte mehrere Bevölkerungsgruppen ein Territorium geteilt haben. Das nationale «Wir» ist stark, weil es Zugehörigkeit schafft durch Abgrenzung. Es will nicht teilen, es will dominieren und profitieren. Wenn es sich ausbreiten kann, will es nicht mischen, es will verdrängen. Die Welt verbrennt sich an diesem giftigen «Wir».
Und das ist ja nicht zwingend. «Im Namen Gottes des Allmächtigen» steht in der Präambel «unserer» nationalen Bundesverfassung. Welcher Gott wird zwar nicht definiert, aber als Schweizer fällt mir halt ein Satz von Jesus ein: «Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.» Zu seinen Schwestern und Brüdern zählt Jesus auch viele, die zu seiner Zeit nicht zum politischen und religiösen «Wir» gehört haben. Das familiäre «Wir» von Jesus (und notabene auch von anderen religiösen Leitfiguren) grenzt uns nicht ab, es macht uns zur ultimativen Grossfamilie. Und sagt uns zugleich, dass unsere Hauptaufmerksamkeit den «Geringsten» gelten sollte. Dieses «Wir» ist stark, wenn es alle mitdenkt und teilt. Bei so einer grossen «Teilete» unseres Wissensstandes und unseres Wohlstandes, da hätte die Schweiz ja einiges zu bieten! Und wenn sich «unser Land» für ein solches Selbstverständnis am 1. August jeweils feiern würde, da würde ich auch grad ein paar Böller zünden.
CHRISTOPH TRUMMER
REDKATION FRUTIGLÄNDER
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