Wie bestellt, so geliefert
25.03.2025 AnalyseImmer häufiger wird irgendwo eine Geburtenabteilung geschlossen oder gleich ein ganzes Spital. «Plötzlich und unerwartet» ist an solchen Fällen allerdings gar nichts: Die Flurbereinigung ist politisch gewollt und eine logische Folge der aktuellen ...
Immer häufiger wird irgendwo eine Geburtenabteilung geschlossen oder gleich ein ganzes Spital. «Plötzlich und unerwartet» ist an solchen Fällen allerdings gar nichts: Die Flurbereinigung ist politisch gewollt und eine logische Folge der aktuellen Spitalfinanzierung.
Eine Analyse von Mark Pollmeier, Redaktion «Frutigländer».
Die Schweizer Spitallandschaft ist vielfältig und weist regionale Besonderheiten auf. Doch es gibt Entwicklungen, die fast alle Gesundheitsbetriebe verbinden. Eine davon ist die desolate finanzielle Situation. Im Kanton Bern schrieben im Geschäftsjahr 2023 mit einer Ausnahme alle Spitäler rote bis tiefrote Zahlen. (Die Ausnahme war die Spitäler fmi AG, die einen kleinen Gewinn ausweisen konnte.) Doch es sind nicht nur die kleinen Häuser in den Randregionen: Bei den grossen Spitälern ist die Lage teils noch dramatischer. Als Beispiel kann die Berner Inselgruppe dienen: Sie schloss das Geschäftsjahr 2023 mit einem Verlust von 113 Millionen Franken ab. Vielen anderen Spitzenkliniken geht es nicht besser. Das Unispital in Zürich wies für 2023 ein Minus von 49 Millionen Franken aus, das Zürcher Stadtspital Triemli schloss mit 40 Millionen Franken Verlust ab, das Unispital Basel gab ein Defizit von 50 Millionen Franken bekannt. Die Folge: Nicht nur im Kanton Bern diskutiert man mittlerweile über Rettungsschirme, mit denen man vom Konkurs bedrohte Spitäler auffangen kann. Das Kantonsspital Aarau schaffte es zuletzt nur dank einer 240-Millionen-Finanzspritze des Kantons auf eine schwarze Null.
Eine zweite Gemeinsamkeit sind die Arbeitsbedingungen. Wer sich mit Mitarbeitenden unterhält, hört von Dauerüberlastung, von wachsender Bürokratie und unterbesetzten Stationen.
An manchen Spitälern sind die Zustände mittlerweile unhaltbar geworden. Nur ein Beispiel: Am zweitgrössten Bündner Spital stellte das Arbeitsinspektorat allein im ersten Halbjahr 2023 über 1000 teils gravierende Verstösse gegen das Arbeitsgesetz fest. Die Kontrolleure stiessen etwa auf eine Assistenzärztin, die an einem Wochenende 32 Stunden am Stück durchgearbeitet hatte.
Womit automatisch ein weiterer Punkt angesprochen wäre: die Qualität der Behandlung. Man darf ÄrztInnen und Pflegenden abnehmen, dass sie für Ihre Patienten das Beste wollen. Viele arbeiten bis an die eigene Belastungsgrenze und darüber hinaus. Wenn aber ständig Personal fehlt, wenn der Notbetrieb ein Dauerzustand ist, wird darunter zwangsläufig auch die Qualität der Arbeit leiden. Einer Ärztin, die seit über 30 Stunden im Dienst ist, unterlaufen jedenfalls leichter Fehler als einer ausgeruhten Kraft. Dass insbesondere Spitäler über Fachkräftemangel klagen, ist angesichts solcher Zustände kein Wunder.
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Die Spitäler sind finanziell am Anschlag, die Personalsituation wird zur Dauerkrise, die Qualität der Behandlung leidet. Die Frage ist: Wie konnte es so weit kommen?
Ein wichtiger Grund für die aktuelle Situation ist das Finanzierungssystem. Seit rund zwanzig Jahren setzt die Politik im Spitalwesen auf Wettbewerb. 2012 wurden mit dem neuen Krankenversicherungsgesetz die Wahlfreiheit und Abrechnung nach Fallpauschalen eingeführt. Spätestens mit dieser Massnahme wurde das Gesundheitswesen stark kommerzialisiert.
Grosse Spitäler und die oft hoch spezialisierten Privatkliniken sind in diesem System im Vorteil, denn sie können viele und lukrative Fälle abrechnen. Die kleinen, öffentlichen Spitäler dagegen werden benachteiligt. Sie sollen die Grundversorgung sicherstellen, und das bedeutet: eine grosse medizinische Vielfalt, kostenintensive Notfalldienste, dafür aber wenig Spezialisierungsmöglichkeiten und weniger lukrative Operationen. Unter diesen Bedingungen kostendeckend zu arbeiten, ist nahezu unmöglich. Hinzu kommt, dass die kleinen Häuser im Vergleich als weniger attraktiv wahrgenommen werden, sowohl von ÄrztInnen als auch von PatientInnen. Langfristig beschleunigt das ihr Ausbluten.
Im angeblichen Wettbewerb der Besten und Effizientesten sind also längst nicht alle gleich – und womöglich ist genau das gewollt. Das Schweizer Gesundheitswesen ist eines der teuersten der Welt. Reformen haben deswegen immer das Ziel, Geld zu sparen. Bei der Einführung der Fallpauschalen lautete die Rechnung ungefähr so: Viele Spitäler arbeiten nicht effizient genug, entweder, weil sie zu klein oder schlicht überflüssig sind. In einem schärferen Wettbewerb müssen sie ihr Angebot irgendwann zusammenstreichen oder gleich ganz schliessen. Damit werden dann die grossen Spitäler gestärkt: Sie können kostengünstiger arbeiten und bessere Qualität anbieten. Insgesamt, so die Hoffnung, wird das Spitalwesen dadurch billiger.
Mittlerweile weiss man, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Zwar mussten tatsächlich schon viele Spitäler schliessen. Die Kosten aber stiegen munter weiter, denn das Fallpauschalensystem hat einen Konstruktionsfehler.
In den Spitälern fragt man heute nicht mehr: Wie können wir einem Patienten helfen? Die Leitfrage ist nun: Was bringt uns der Patient? Die Folge ist, dass lukrative Behandlungen bevorzugt und wortwörtlich ausgebaut werden, zum Beispiel, indem Spitalunternehmen teure Anbauten für noch mehr Betten errichteten – Betten, die es gar nicht braucht, die aber nun gefüllt werden müssen. Also macht man die einen Patienten ein bisschen kränker, als sie eigentlich sind, auf dass sie länger bleiben müssen. Andere, die wenig Geld einbringen, scheucht man so früh wie möglich aus dem Spital («blutige Entlassung»).
Das Finanzierungsmodell, das eigentlich Geld sparen sollte, hat hier ganz offensichtlich zu Fehlanreizen geführt – und zu einer bedeutenden Veränderung im Arbeitsalltag. Vor allem junge Spitalärztinnen und -ärzte verbringen täglich weniger als zwei Stunden am Bett von Patienten – aber fünf Stunden am Computer, um den bürokratischen Anforderungen gerecht zu werden. Denn nur, was ordentlich erfasst, belegt und dokumentiert ist, kann später abgerechnet werden.
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Andernorts hat man solche negativen Auswirkungen längst erkannt und verabschiedet sich wieder vom reinen Fallpauschalensystem. Ein internationaler Trend ist dabei die Kombination aus Fallpauschalen und globalen Budgets. Letzteres verhilft den Spitälern zu einer finanziellen Grundsicherung, setzt über die Fallpauschalen aber auch Anreize für innovative Behandlungen. Norwegen zum Beispiel kombiniert beide Systeme zu gleichen Teilen: Die eine Hälfte eines Spitalbudgets besteht aus einer fixen Pauschale, die andere Hälfte aus der Vergütung via Fallpauschalen.
Manche Länder experimentieren aktuell auch mit einer sogenannten episodenbasierten Vergütung. Dabei erhalten zum Beispiel ein Spital und ein niedergelassener Arzt gemeinsam Geld für die gesamte Behandlungskette, also für die Voruntersuchung, die Operation inklusive aller dazugehörigen Leistungen und Nachuntersuchungen.
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Und die Schweiz? Die hat das Fallpauschalensystem mit Verspätung eingeführt, als helvetische Variante des deutschen Modells. Möglicherweise wird sie auch mit Verzögerung wieder davon abkommen oder zumindest eine Weiterentwicklung versuchen. Mit der Einheitlichen Finanzierung (EFAS), bei der nicht mehr zwischen ambulanten und stationären Leistungen unterschieden wird, sind erste Veränderungen auf den Weg gebracht worden. Der erste Teil dieser Reform tritt allerdings erst 2028 in Kraft.
Auch über die Tarife für stationäre und ambulante Spitalleistungen wird derzeit verhandelt. Die heutigen Abgeltungen gelten als zu niedrig angesetzt und enthalten keinen Teuerungsausgleich – gemäss Spitalverbänden ein Hauptgrund für die desolate Finanzlage vieler Spitalunternehmen.
Ob solche Massnahmen helfen werden, die Situation zu entspannen, wird sich zeigen. Für manche der angeschlagenen Spitäler werden sie wohl zu spät kommen.