Wie das Niederhorn wurde, was es ist – ein Berner Wahrzeichen
03.10.2025 NaturWer heute auf dem Niederhorn steht, knapp 1400 Meter über dem Thunersee, blickt nicht nur in die Alpen, sondern steht auch auf einem Stück Erdgeschichte. Der Grat erzählt von tropischen Meeren, wandernden Kontinenten, Dinosauriern, Gebirgsfaltungen und unterirdischen ...
Wer heute auf dem Niederhorn steht, knapp 1400 Meter über dem Thunersee, blickt nicht nur in die Alpen, sondern steht auch auf einem Stück Erdgeschichte. Der Grat erzählt von tropischen Meeren, wandernden Kontinenten, Dinosauriern, Gebirgsfaltungen und unterirdischen Flüssen. Seine Entstehung ist die Schweizer Kurzfassung der Alpen – und ein Fenster in die Welt vor Millionen von Jahren.
JACQUELINE RÜESCH
Vor rund 120 bis 110 Millionen Jahren, mitten in der Kreidezeit, lag dort, wo heute das Niederhorn aufragt, kein Berg, sondern eine flache, tropische Meeresküste. In warmem Wasser wuchsen Korallenriffe, lagerten sich Kalkschlämme und Sandbänke ab. Aus diesen Ablagerungen entstand später der Schrattenkalk – ein harter, heller Kalkstein, der bis heute den Sockel vieler Berge im Berner Oberland bildet.
Das war genau jene Epoche, in der Dinosaurier die Erde beherrschten. Während im Meer Ammoniten und Muscheln lebten, stapften auf den nahegelegenen Festlandinseln riesige Pflanzenfresser wie Iguanodons durch Farnwälder, und Raubsaurier jagten ihre Beute. Fossilien dieser Tiere finden sich zwar nicht direkt am Niederhorn, wohl aber im entfernteren Nachbarn, dem Jura. Die Vorstellung ist verlockend: Während sich auf dem Meeresgrund die Sedimente ablagerten, haben nur wenige Hundert Kilometer entfernt Dinosaurier ihre Spuren im Sand hinterlassen. Die Gesteine des Niederhorns sind damit stille Zeitzeugen des Zeitalters der Saurier.
Ein Meer kommt zurück
Viele Millionen Jahre später, im Eozän (vor rund 38 Millionen Jahren), kehrte das Meer noch einmal zurück. Es überflutete weite Teile des heutigen Alpenraums. In dieser Zeit entstanden neue Sand- und Kalkablagerungen, die Geologen als Niederhorn-Formation bezeichnen – benannt nach dem markanten Gipfel selbst.
Sie besteht aus zwei Teilen: dem Hohgant-Sandstein, der aus Küstensanden hervorging, und dem Gemmenalp-Kalk, der im flachen Schelfmeer mit unzähligen Muscheln und Schnecken entstand. Diese wechselnden Schichten aus Sandstein und Kalk prägen bis heute die markanten Felsbänder am Niederhorn.
Wenn Berge gefaltet werden
Erst lange nach dem Aussterben der Dinosaurier begann die ‹Orogenese› – das geologische Fachwort für «Gebirgsbildung». Als die afrikanische Platte mit Europa kollidierte, wurde der Boden des urzeitlichen Meeres zusammengeschoben, gefaltet und übereinander geschoben.
Das Niederhorn gehört seither zur helvetischen Randkette, einer Abfolge von Sedimentgesteinen, die in grossen Paketen – sogenannten Decken – nach Norden geschoben wurden. Man kann es sich vorstellen wie einen gewaltigen Teppich, der von Süden her über den Boden gestossen wird. Die «Niederhorn-Decke» schiebt sich dabei sichtbar über weichere Gesteine hinweg – ein eindrückliches Beispiel für die Kräfte der Alpenbildung.
Der subalpine Flysch – die weiche Unterlage
Unterhalb des Niederhorns liegt der subalpine Flysch. Dieses Gesteinspaket besteht aus abwechselnden Lagen von Sandstein, Ton und Mergel. Der Name «Flysch» stammt vom schweizerdeutschen fliessen, denn diese Gesteine entstanden durch riesige Unterwasser-Rutschungen in tiefe Meeresbecken. Weil Flysch vergleichsweise weich ist, bildete er während der Alpenfaltung eine Art Gleitlager. Darauf konnten die harten Kalke und Sandsteine wie auf einer schiefen Ebene nach Norden geschoben werden. Das erklärt, warum die Kalkketten des Niederhorns heute so steil und markant herausragen, während die Flysch-Zonen eher bewaldete, sanfte Hügel bilden.
Steile Wände und geneigte Rücken
Wer vom Thunersee aufs Niederhorn blickt, sieht schroffe Wände, die fast senkrecht aus dem Wasser emporsteigen. Auf der Rückseite des Berges hingegen ist der Hang viel sanfter geneigt. Der Grund dafür liegt in der Schichtstellung: Die Kalkplatten tauchen leicht nach Südosten ab – wie eine geneigte Schiefertafel.
Dazu kommt eine mächtige Störung, die Hohgant–Sundlauenen-Verwerfung. Sie hat die Gesteinspakete verschoben und die heutige Gestalt entscheidend geprägt.
Wasser, das Felsen frisst
Doch das wahre Geheimnis des Niederhorns liegt im Innern. Kalkstein ist wasserlöslich. Regenwasser, das durch den Boden sickert, wird durch Kohlendioxid zu schwacher Kohlensäure. Tropfen für Tropfen frisst sich diese Flüssigkeit über Jahrtausende durch das Gestein und bildet unterirdische Höhlen und Gänge.
So entstand eine der bedeutendsten Karstlandschaften der Schweiz. Karst ist eine Landschaft, in der das Wasser den vorhandenen Kalk aus dem Gestein löst, Höhlen und unterirdische Flüsse bildet und an der Oberfläche Dolinen – runde Einsturztrichter – hinterlässt. Die berühmtesten Zeugnisse sind die St.-Beatus-Höhlen bei Sundlauenen.
Sie entwässern einen grossen Teil des Massivs. Wer dort durch die Tropfsteingänge wandert, steht mitten im Herzen des Niederhorn-Massivs – und folgt einem unterirdischen Flusssystem, das sein Wasser aus den Hochlagen des Gebirges bezieht. Manche Quellen treten sogar unter dem Spiegel des Thunersees aus.
Karren – Muster im Fels
Auch an der Oberfläche zeigt sich das Wirken des Wassers. Auf vielen Kalkflächen des Niederhorns findet man Karrenformen – Rinnen, Furchen und kleine Vertiefungen, die durch Regenwasser entstanden. Manche wirken wie Kuhtritte, andere wie feine Linien, die den Fels durchziehen. Sie sind das oberirdische Gegenstück zu den unterirdischen Höhlen – gewissermassen die Handschrift des Wassers auf nacktem Fels.
Gletscher formen das Bild
In der letzten Eiszeit überzogen gewaltige Gletscher das Berner Oberland. Der Aaregletscher und seine Seitenarme schoben sich durch die Täler, schliffen die Hänge ab und formten steile Felswände. Sie räumten ganze Schuttmassen aus und hinterliessen die klare Struktur der Täler.
Noch heute finden Geologen Spuren von Karstformen unterhalb des Seespiegels – ein Hinweis darauf, dass frühere Talsohlen einmal deutlich höher lagen und durch den Eisdruck später abgesenkt wurden. Der heutige Thunersee ist also nicht nur ein malerisches Naturphänomen, sondern auch ein Fenster in das Zusammenspiel von Gletscherkräften und Kalklandschaft.
Lebendiges Lehrbuch der Erdgeschichte
Heute ist das Niederhorn weit mehr als ein Aussichtspunkt. Es ist ein Lehrbuch unter freiem Himmel. Jeder Schritt auf dem Grat führt durch ein neues Kapitel der Erdgeschichte:
• von tropischen Meeren und der Welt der Dinosaurier,
• über die Alpenfaltung und das Zusammenschieben ganzer Gesteinspakete,
• Höhlen, Quellen und Karstsysteme
• bis zu den Gletschern, die das heutige Panorama formten.
Wer hier wandert, blickt nicht nur über den Thunersee, sondern über 120 Millionen Jahre Geschichte. Das Niederhorn ist nicht einfach ein Berg – es ist ein Archiv der Erde, in dem jede Klippe, jede Rinne und jeder Tropfen Wasser ein Stück der Vergangenheit erzählt.