Wie viel Ausweichflächen braucht es?
12.09.2023 FrutigenDer Streit um verschiedene Bauvorhaben in Kanderbrück geht in die nächste Runde: Ein weiteres Projekt wurde angefochten und muss nun von der nächsthöheren Instanz beurteilt werden. Im Mittelpunkt steht einmal mehr die Verkehrserschliessung des Quartiers.
...Der Streit um verschiedene Bauvorhaben in Kanderbrück geht in die nächste Runde: Ein weiteres Projekt wurde angefochten und muss nun von der nächsthöheren Instanz beurteilt werden. Im Mittelpunkt steht einmal mehr die Verkehrserschliessung des Quartiers.
MARK POLLMEIER
Schon im Herbst 2022 war ein Neubauprojekt für zwei Mehrfamilienhäuser mit Einstellhalle im Tellenfeldgässli ans kantonale Verwaltungsgericht weitergezogen worden. Ein Entscheid in dieser Sache steht noch aus.
Vor rund einem Monat wurde nun das nächste Vorhaben angefochten: Gegen den geplanten Neubau eines Mehrfamilienhauses mit Einstellhalle und eines weiteren Einfamilienhauses mit Garage im Guggigässli läuft derzeit eine Beschwerde bei der Bau- und Verkehrsdirektion des Kantons Bern.
Private Vorplätze und Hauszufahrten
Mitte Juli hatte das Regierungsstatthalteramt das Projekt nach diversen Abklärungen bewilligt. Rund zehn Einsprecher wollten sich mit dem positiven Gesamtbauentscheid jedoch nicht abfinden und legten Mitte August Beschwerde ein. Deren Kernpunkt ist einmal mehr die Erschliessung, die von den Einsprechern als ungenügend beurteilt wird.
Der Oberingenieurkreis (OIK) I, der die Verhältnisse und die Verkehrssicherheit vor Ort einzuschätzen hatte, kam zu einem anderen Urteil. Die Erschliessung sei genügend – allerdings unter der Bedingung, «dass die privaten Vorplätze und Hauszufahrten bereits heute als Ausweichmöglichkeiten für Kreuzungsmanöver benutzt werden.» Sei das nicht mehr der Fall, würde die Verkehrsabwicklung in weiten Teilen des Quartiers nicht mehr funktionieren, so der OIK in seiner Stellungnahme. Ob das aktuell strittige Bauvorhaben realisiert werde oder nicht, sei für diese Einschätzung unerheblich.
Gibt es ein Gewohnheitsrecht?
Die Frage ist, ob die genannten Vorplätze und Hauszufahrten wirklich dauerhaft für Ausweichmanöver genutzt werden können. Der OIK bejaht dies offenbar. In seiner Stellungnahme heisst es: «Wir nehmen an, dass das Benutzen der privaten Vorplätze und Zufahrten zum Kreuzen von den Grundeigentümerschaften stillschweigend toleriert wird – weil viele im Quartier wohnende Autofahrende solche Flächen zumindest hin und wieder benutzen müssen – und sich im Verlauf der Zeit ein Gewohnheitsrecht eingestellt hat.»
Genau diesen Punkt bestreiten jedoch die Beschwerdeführer. Erstens gebe es in diesem Kontext kein sogenanntes Gewohnheitsrecht. Also könne man auch keine Begründung darauf stützen. Zweitens wollten schon heute diverse Grundeigentümer ihre Vorplätze und Einfahrten eben nicht dem Verkehr zur Verfügung stellen. Teilweise seien die vom OIK genannten Flächen mit baulichen Massnahmen versehen worden (Zäune, Ketten, Betonblöcke usw.), teilweise seien sie sogar mit richterlichen Verboten belegt.
Das Fazit der Beschwerdeführer: die Situation, die der OIK zugrunde lege, bestünde schon jetzt nicht mehr. Deswegen könne die Verkehrserschliessung auch nicht als genügend betrachtet werden. Dem Baugesuch sei demnach der Bauabschlag zu erteilen.
Die Beschwerdeführer bemängeln noch diverse andere Punkte des Gesamtbauentscheids. Die ungenügende Verkehrserschliessung und die damit verknüpften Sicherheitsfragen sind jedoch ihre Haupteinwände gegen die geplanten Häuser im Guggigässli. Trotzdem folgte das Regierungsstatthalteramt ihrer Argumentation nicht und bewilligte das umstrittene Projekt.
Keine Auskunft zum laufenden Verfahren
In seiner Begründung folgt das Statthalteramt der Einschätzung des OIK und geht davon aus, dass die Erschliessung des Guggigässli genügend ist. Die zu erwartende Verkehrsmehrbelastung durch das Bauprojekt sei verhältnismässig gering (der OIK geht von 30 bis 60 zusätzlichen Fahrten pro Tag im Guggigässli aus). Die Verkehrssicherheit und die Brandbekämpfung seien somit gewährleistet, die Einwände der Einsprecher unbegründet.
Der «Frutigländer» fragte bei der Bewilligungsbehörde nach, ob ein «Gewohnheitsrecht», wie der Oberingenieurkreis es anführt, überhaupt ein baurechtlich zulässiges Argument sein könne. Doch das Regierungsstatthalteramt wollte oder konnte dazu mit Blick auf das laufende Beschwerdeverfahren keine Auskunft geben. Der Gesamtbauentscheid sei mit Beschwerde bei der Oberinstanz angefochten worden. «Mit Interesse erwarten wir deren Entscheid», so die Antwort.
Ähnlich lautete die Rückmeldung des OIK. Die Frage, wie sich die Situation im Guggigässli denn ohne private Ausweichflächen darstelle, wurde nicht beantwortet. «Wir bitten Sie um Verständnis, dass wir uns aufgrund des laufenden Verfahrens nicht weiter dazu äussern.»
Der Kanton ist am Zug
Das nächste Wort hat somit die Bau- und Verkehrsdirektion des Kantons Bern. Sie wird unter anderem zu beurteilen haben, ob die Verkehrserschliessung im Guggigässli ausreichend ist oder nicht. Sollte die Direktion zu einem anderen Ergebnis kommen als das Statthalteramt, könnten damit sämtliche Bauvorhaben im Quartier auf dem Prüfstand stehen. Das Guggigässli so auszubauen, dass man zum Kreuzen nicht mehr privaten Grund nutzen muss, erachtet der Oberingenieurkreis nämlich als unverhältnismässig.