Wie viele Hinweise braucht es?
14.05.2024 FrutigenBERGSICHERHEIT Der erste Tag der Saison begann in Kandersteg mit einem Unglück: Nach einem Lawinenabgang mit Steinschlag wurden Wanderer verletzt, einer starb. Das vielbeachtete Ereignis hat eine Debatte um die Sicherheit ausgelöst. Hätte das betroffene Gebiet besser ...
BERGSICHERHEIT Der erste Tag der Saison begann in Kandersteg mit einem Unglück: Nach einem Lawinenabgang mit Steinschlag wurden Wanderer verletzt, einer starb. Das vielbeachtete Ereignis hat eine Debatte um die Sicherheit ausgelöst. Hätte das betroffene Gebiet besser gesichert sein müssen?
MARK POLLMEIER
Lawine und Oeschinensee – diese beiden Wörter reichen aus, um ein lokales Ereignis zum nationalen Medienthema zu machen, erst recht, wenn dabei auch noch Menschen betroffen sind. Es dauerte am letzten Donnerstag also nicht lange, da ging die Nachricht, wie man heute sagt, viral. Eine gute Stunde nach dem Vorfall oberhalb des Oeschinensees waren die ersten Bilder und Videos im Netz, eingesandt von sogenannten News-Scouts. Die Lage war zu diesem Zeitpunkt noch unübersichtlich. Es gebe Verletzte, wurde gemeldet, Helikopter seien im Einsatz (die bald darauf ebenfalls gefilmt und online gestellt wurden).
Mehr als 60 Menschen mussten aus dem betroffenen Gebiet evakuiert werden. Am Abend, als die Kantonspolizei eine Medienmitteilung verschickte, herrschte traurige Gewissheit: Es gab vier Verletzte und einen Toten. Die Nassschneelawinen hatten einen Steinschlag verursacht, der auf die Wanderer niederging. Ein 32-jähriger Mann überlebte den Vorfall nicht.
Die unvermeidliche Schuldfrage
Nun wurden auch internationale Medien auf das tragische Ereignis aufmerksam: «Drama am Alpen-Juwel bei Kandersteg», meldete etwa eine Münchner Boulevardzeitung.
In der Schweiz war man derweil schon weiter. Wann immer sich ein Unfall mit Verletzten und Toten ereignet, wird alsbald auch die Schuldfrage gestellt. Schon am Tag des Unfalls war klar, dass sich die betroffenen Wanderer via Heuberg in Richtung Oberbärgli befunden hatten. Dieser Bergweg war jedoch aus guten Gründen noch gesperrt. Auf der Website des Oeschinensees und auf den grossen Bildschirmen bei der Gondelbahn wurden die Gründe dafür genannt: «Lawinen- und Absturzgefahr», hiess es dort ausdrücklich. Gemäss Gemeinderatspräsident René Maeder waren vor Ort auch die Wanderwegweiser demontiert, ausserdem einige Brücken auf dem Weg. Im Lawinenbulletin für Kandersteg hiess es: «Mit der tageszeitlichen Erwärmung und der Sonneneinstrahlung sind feuchte Rutsche und Lawinen möglich. Touren sollten früh gestartet und rechtzeitig beendet werden.» Auch grössere Gleitschneelawinen seien möglich.
Hinweise gab es also zur Genüge. Die Debatte dreht sich nun darum, ob sie genügten – oder ob man noch mehr hätte tun müssen. Einheimischen und erfahrenen Berggängern ist klar, dass man im Frühling bei steigenden Temperaturen nicht unterhalb von steilen Hängen herumläuft – vor allem dann nicht, wenn in der Höhe noch reichlich Schnee von den letzten Niederschlägen liegt. Doch vielen Besuchern scheint die Gefahr, die von Lawinen und Steinschlägen ausgeht, nicht bewusst zu sein. Mehr noch: Selbst grundlegendes Wissen darüber, wie und mit welcher Ausrüstung man sich im Berggebiet bewegt, geht offenbar verloren.
Mit Turnschuhen zum Säntis
Sobald es wärmer wird, verunglücken in den Schweizer Bergen regelmässig Menschen, die ihre Fähigkeiten masslos überschätzen und / oder völlig unangemessen gekleidet sind. Anfang Mai etwa starb ein junger Mann im Alpstein: Er stürzte über 100 Meter in die Tiefe und konnte nur noch tot geborgen werden. Der 32-Jährige Tourist war mit Turnschuhen in Richtung Säntis unterwegs – auf riesigen Schneefeldern, die es weiter oben noch gibt. Auf einer dieser Flächen war der Tourist offenbar abgerutscht. Es war der erste Tag der Saison.
Gefährliche Dynamik
Zurück nach Kandersteg: Hätte die Gemeinde, die für die Sicherheit zuständig ist, mehr tun müssen, um die gesperrten Wege zu kennzeichnen? Vielleicht muss man die Frage anders stellen: Gibt es überhaupt ein Mittel, das unbedarfte Wanderer davon abhält, sich selbst in Gefahr zu bringen?
Schon am vergangenen Freitag waren erneut Leute auf demselben Weg unterwegs, auf dem tags zuvor das Unglück geschehen war – trotz eines Absperrbandes und mehrsprachiger Hinweistafeln, die man zwischenzeitlich angebracht hatte.
Gerade an vielbesuchten Tourismusmagneten wie dem Oeschinensee entsteht leicht eine gefährliche Dynamik: BesucherInnen aus dem Ausland sind oft nur einen einzigen Tag vor Ort, und an diesem Tag muss dann die Gelegenheit genutzt werden, koste es, was es wolle. So berichtet ein Bahnangestellter, dass manchmal noch die letzten Gondeln zum Oeschinensee voll besetzt sind. Der Hinweis, dass man vermutlich nicht mehr mit der Bahn zurück ins Tal fahren könne, wird meist mit Schulterzucken quittiert – dann gehe man halt zu Fuss. Ja, wenn man es denn kann. Möglich ist aber auch, dass die Betroffenen später im Dunkeln durch die Gegend irren und irgendwo eingesammelt werden müssen.
Die anderen machen’s ja auch …
Auch oben am See kommt es zu Fehleinschätzungen. Mag ein Berg- oder Wanderweg auch gesperrt sein: Sobald die Ersten darauf unterwegs sind, gibt es alsbald Nachahmer. Motto: «Guck, die laufen dort ja auch, wird schon nicht so schlimm sein.» Dass es unten vielleicht noch gut aussieht, weiter oben aber trotzdem gefährlich sein kann, kommt den Wagemutigen nicht in den Sinn.
Würden sie sich durch ein gespanntes Seil oder eine hölzerne Absperrung davon abhalten lassen? Braucht es an jedem Bergweg ein Schild mit Warnhinweisen? Die jüngsten Erfahrungen zeigen, dass selbst das nicht immer hilft.
Trotzdem wird die Gemeinde den Vorfall nun analysieren und zusammen mit Fachleuten erörtern, ob es weitere Sicherheitsmassnahmen braucht. Sollte man sich dafür entscheiden, wäre einiges zu tun: Der am vergangenen Donnerstag betroffene Bergweg ist bei Weitem nicht der einzige, den die Gemeinde dann «verwalten» müsste.
Ein männliches Problem?
Auch die Stadt Bern hat ihr «Gefahrengebiet»: die Aare. Jedes Jahr ertrinken dort Flussschwimmer. Interessant ist die Statistik: Wie bei den übrigen Todesfällen im Wasser sind auch in der Aare überwiegend jüngere Männer betroffen. Oder in Zahlen: Von rund 50 Menschen, die pro Jahr in der Schweiz ertrinken, sind fast 80 Prozent Männer – manchmal auch prominente. Vor zwei Jahren ertrank Emmeril Kahn Mumtadz, der Sohn des damaligen indonesischen Präsidentschaftskandidaten. Der 22-Jährige wurde in der Aare beim Stauwehr Engehalde tot aufgefunden.
Experten weisen in dem Zusammenhang darauf hin, dass Männer eine andere Risikobewertung vornähmen als Frauen. Vor allem die jüngeren neigten zur Selbstüberschätzung, nicht selten sei dabei auch Alkohol im Spiel. Das ungleiche Geschlechterverhältnis zeige sich auch in anderen Unfallkategorien, etwa im Strassenverkehr.
Die Stadt Bern steht mit der Aare übrigens vor ähnlichen Herausforderungen wie manche Berggemeinde mit ihren Wandergebieten: Beides lässt sich nicht komplett überwachen und absolut «sicher» machen. Aareschwimmer wie Bergwanderer müssen ein Mindestmass an Eigenverantwortung zeigen.
Um Schwimmer und «Böötler» für die Gefahren zu sensibilisieren, initiierte die Stadt Bern zusammen mit Partnern die Kampagne «Aare You Safe», die 2013 bis 2015 und 2017 bis 2020 lief. Ein Element waren knallgelbe Graffiti auf den Uferwegen entlang der Aare. Inwieweit die Warnhinweise erfolgreich waren, ist schwer einzuschätzen – auch während der Kampagne kamen beim «Aareschwumm» jedes Jahr Menschen zu Tode.
POL