«Wir leben alle vom gleichen ‹Produkt›»
19.07.2024 TourismusLukas Eichenberger führt drei Hotels und ist seit Juni neuer VR-Präsident der TALK AG. Als solcher moderiert er zwischen den scheinbar unterschiedlichen Interessen – und will zugleich grosse Visionen verwirklichen.
BIANCA HÜSING
Wenn Lukas ...
Lukas Eichenberger führt drei Hotels und ist seit Juni neuer VR-Präsident der TALK AG. Als solcher moderiert er zwischen den scheinbar unterschiedlichen Interessen – und will zugleich grosse Visionen verwirklichen.
BIANCA HÜSING
Wenn Lukas Eichenberger seinen Lieblingsort im Tal nennen soll, ist er kaum zu bremsen. Er schwärmt vom unberührten Gasterntal, liebt das Skifahren an Elsigen und freut sich über die Entwicklung des Adelbodner Dorfkerns. Obwohl das Werben zu seiner Funktion als Touristiker dazugehört, kauft man ihm die Begeisterung gerne ab. Er glaube fest an das Potenzial der Region, betont der neue TALK-Präsident im Interview. Deshalb scheut er sich auch nicht, heisse Eisen anzufassen und zum Beispiel eine neue Bergbahn zu planen.
Herr Eichenberger, 2021 ist die TALK AG in gewisser Weise implodiert und musste sich neu aufstellen. Ist sie dort angekommen, wo sie vor drei Jahren hinwollte?
Ja, das würde ich definitiv so sagen. Wir haben grosse Schritte vorwärtsgemacht und das Gegeneinander in ein Miteinander verwandelt. Durch die Einbindung der Bergbahnen, der Hotellerie, des Gewerbes und der Gemeinden in den Verwaltungsrat ist es uns gelungen, alle entscheidenden Player an einen Tisch zu holen.
Eine grosse Runde mit unterschiedlichen Interessen …
Zuerst habe ich auch gedacht: «Uff, das könnte schwerfällig werden». Aber unter dem integrativen Führungsstil meines Vorgängers René Müller haben wir gut zusammengefunden. Vor allem haben wir jetzt Transparenz hergestellt. Vielen war früher nicht klar: Wo kommt das Geld her, wo fliesst es hin, was macht die TALK eigentlich? Die sehr komplexen Strukturen hat niemand durchschaut. Dank unserer neuen Planungsinstrumente ist das kein Thema mehr, heute kann man alles ganz genau nachvollziehen. Das hat Spannung rausgenommen und dazu beigetragen, dass wir uns auf das Entwickeln gemeinsamer Visionen konzentrieren können.
Zunächst einmal hat jeder Ort seinen eigenen Masterplan entwickelt. Ist das nicht ein Rückschritt zum Gärtlidenken?
Wenn es in die Ortsbetrachtung geht, stehen natürlich zuerst die kleineren Themen im Vordergrund: ein bestimmter Wanderweg, eine konkrete Bikeroute usw. Für die jeweiligen Orte ist das auch wichtig, aber dabei darf man das «Big Picture» nicht aus dem Blick verlieren. Deshalb werden wir die einzelnen Masterpläne nächstes Jahr zu einer Destinationsstrategie zusammenführen.
Ein wiederkehrendes Schlagwort in den Masterplänen ist der 365-Tage-Tourismus. Der kann nur funktionieren, wenn die Hoteliers vor Ort auch mitziehen.
Das heisst aber nicht, dass wir 365 Tage Hochsaison haben wollen und jeder Betrieb geöffnet bleiben muss. Wichtig ist nur, dass dem Gast immer ein attraktives Programm geboten wird – unabhängig davon, zu welcher Jahreszeit er kommt. Es braucht also pro Ort ein Minimum an Leistungen: zwei offene Restaurants, eine Bergbahn, vier Hotels und ein Schlechtwetterprogramm. Wenn einzelne Akteure nicht mitmachen wollen, ist das nicht so schlimm – solange es genug andere gibt, die dazu bereit sind.
Und die gibt es?
Wir haben jetzt überall einen gewissen Grundstock – selbst in Adelboden und an der Lenk, wo man stark auf den Winter ausgerichtet ist. Erfreulich war das Feedback an der letzten HV des Hoteliervereins: Alle, die auf Ganzjahresbetrieb gewechselt haben, sind begeistert und wollen nicht mehr zurück. Dass die Überzeugung von selbst gereift ist, tut besonders gut. Wir können den Hoteliers schliesslich nichts vorschreiben, die Rechnung muss individuell aufgehen. Ich selbst habe mit dem «Ermitage» mein erstes 365-Tage-Jahr hinter mir und würde auch nicht mehr umstellen.
Rentiert das tatsächlich?
In der Gesamtbetrachtung: Ja. Denn auch die Betriebspausen haben ihre Nachteile. Man hat Fixkosten, man muss immer wieder Personal suchen. Im Prinzip fährt man den Betrieb zwei Wochen runter und zwei Wochen wieder hoch – das macht schon einen ganzen Monat Arbeit ohne Ertrag. Wenn man die Gesamtrechnung anschaut, spart man mit dem Ganzjahresbetrieb viel Zeit, Ärger und Aufwand und kann bessere Teams bilden.
Dafür muss man erst einmal Personal finden.
Das ist tatsächlich eine riesige Herausforderung. Heutzutage müssen Gastronomen Leute einstellen, von denen sie sich vor 15 Jahren nicht einmal das Dossier angeschaut hätten. Aber auch hier ist der Ganzjahresbetrieb von Vorteil: Man kann den MitarbeiterInnen langfristige Perspektiven bieten und die Zeit für Schulungen und Sprachkurse nutzen.
Damit sich das Personal niederlässt, braucht es wiederum Wohnraum, Kitas usw. Kann eine Tourismusorganisation auch auf solche Standortfaktoren Einfluss nehmen?
Das ist zwar primär Gemeindeaufgabe, aber wir müssen solche Sachen zumindest anstossen. Das Thema Wohnraum wurde in die touristischen Masterpläne aufgenommen. Hier kann TALK mit Hoteliers, Bergbahnen und Gemeinden nach möglichem Bauland oder bestehenden Objekten zur Umnutzung suchen und Konzepte entwickeln. Basierend darauf finden sich auch Leute, die sie umzusetzen bereit sind. Oder es stellt sich eben heraus, dass manches nicht umsetzbar ist.
Dass der Tourismus Projekte anstossen kann, zeigt das jüngste Beispiel aus Kandersteg: Seit diesem Sommer gibt es eine direkte Busverbindung zum Oeschinensee.
Das Thema ÖV wurde viel zu lange vernachlässigt. Zwar sind die einzelnen Gemeinden gut erschlossen, aber man darf die letzte Meile nicht vergessen. Der Gast reist nur mit der Bahn an, wenn er den maximalen Umsteigekomfort bekommt. Keine Frage: Wer im Tal wohnt, ist aufs Auto angewiesen. Aber deshalb müssen wir uns doch nicht von einer Blechlawine aus dem Unterland überrollen lassen!
In diese Kerbe schlagen Sie auch mit Ihrem Seilbahnprojekt Kandersteg–Elsigen.
Genau, ein positiver Nebeneffekt dieser Bahnverbindung wäre, die Strassen Richtung Elsigen zu entlasten.
... indem Sie die Berge mit neuer Infrastruktur zubauen. Ist das nachhaltig?
Wenn man in ein unerschlossenes Gebiet hineinbauen würde, wäre es das sicher nicht. Aber das ist beim Projekt Kandersteg – Elsigen nicht der Fall. Unser Ziel ist es, mit möglichst geringem Eingriff – für die Bahn braucht es trotz der langen Distanz nur drei Masten – die vorhandene Infrastruktur noch besser zu nutzen und das touristische Angebot ganzjährig zu erweitern. Wir dürfen nicht vergessen: Unsere Region lebt vom Tourismus, wir haben hier nichts anderes. Zur Präsentation des Bahnprojekts sind auffallend viele junge Leute gekommen. Es ging schliesslich auch um ihre Zukunftsperspektive; darum, ob sie hier weiterexistieren können. Nachhaltigkeit hat immer drei Dimensionen: sozial, wirtschaftlich und ökologisch. Man darf nicht nur den ökologischen Teil anschauen und alles andere ausblenden.
Zu vernachlässigen ist er aber auch nicht – erst recht nicht, wenn man Naturerlebnisse vermarktet. Der Spitze Stein schränkt das Angebot ein und der fehlende Schnee das Wintergeschäft. Ist die Natur langfristig eine gute Partnerin für den Tourismus?
Ich bin schon der Meinung, ja. Man muss aufpassen, dass man nicht jedes Ereignis hochstilisiert und daraus schliesst, die Alpen seien nicht mehr bewohnbar. Naturgefahren gab es immer und wird es immer geben. Früher waren Lawinen das grosse Thema, heute sind es Murgänge, morgen die Verwaldung. Für die Tourismusentwicklung insgesamt sehe ich überhaupt nicht schwarz, im Gegenteil: Je digitalisierter der Mensch wird, desto grösser wird sein Bedürfnis nach Natur – zu jeder Jahreszeit und auch bei mangelndem Schnee. Natürlich ist es wichtig, dass die Gäste auf Gefahren aufmerksam gemacht und für die Umwelt sensibilisiert werden. Daraus ergeben sich auch neue Chancen.
Zum Beispiel?
In Kandersteg wird über den Aufbau eines Klimakompetenzzentrums nachgedacht. Wo lassen sich die Naturveränderungen besser studieren als hier? Durch den Klimawandel wird ausserdem der Bahnverkehr immer gefragter. Vor allem in den bevölkerungsreichen asiatischen Ländern braucht es Fachleute – und die könnte man gut in der Schweiz ausbilden. Frutigen mit seinen historischen Kehrtunneln der Nordrampe und seinem weltweit wohl modernsten NEAT-Tunnel wäre der perfekte Ort für ein internationales Eisenbahntechnologie-Zentrum.
Sie backen nicht gerade kleine Brötchen. Ist das Ihr Rollenverständnis als TALK-Präsident? Sind Sie primär Visionär, Moderator oder Mediator?
Von allem ein bisschen! Dass ich beruflich unter anderem als Wirtschaftsmediator gearbeitet habe, hilft mir, Projekte wie die Seilbahn Kandersteg – Elsigen voranzutreiben. Die Idee stand schon lange im Raum, aber bislang wollte sich niemand die Finger daran verbrennen. Das sehe ich jetzt als meine Aufgabe. Als Auswärtiger bringe ich zudem eine andere Perspektive mit und erkenne das Potenzial unserer Region vielleicht besser als jemand, der hier aufgewachsen ist. Vielen ist gar nicht bewusst, in was für einem Paradies sie leben und was sich alles machen liesse. Das den Leuten näherzubringen und ihnen zu vermitteln, dass wir alle vom gleichen «Produkt» leben, ist meine Rolle als Moderator. Im Tourismus macht es keinen Sinn, in Abteilungen zu denken und beispielsweise die Bergbahnen gegen die Hotellerie auszuspielen. Wir sind ein einziges Resort: Entweder wir gewinnen zusammen oder wir verlieren zusammen.
Apropos «zusammen»: Sie sind seit Kurzem auch VR-Präsident von Lenk-Simmental Tourismus (LST). Ist das ein Signal in Richtung Zusammenschluss beider Destinationen?
Seit dem Neustart der TALK haben wir die Zusammenarbeit bereits massiv verstärkt; so gibt es zum Beispiel einen gemeinsamen Marketingsausschuss. Dass die Aktionäre der LST einstimmig hinter meiner Präsidentschaft stehen, zeigt, dass die Zeichen klar Richtung intensiverer Zusammenarbeit stehen. Im Moment ist es aber durchaus sinnvoll, dass LST eine eigenständige Organisation bleibt. An der Lenk hat man sowohl mit Adelboden als auch mit dem Saanenland viele Berührungspunkte. Es gibt zwar diverse Themen, bei denen wir destinationsübergreifend zusammenarbeiten. Wenn man aber zu viele Partner unter einem Dach zusammenfasst, besteht die Gefahr, dass einzelne Orte unter ferner liefen verschwinden. Für den Gast spielt es sowieso keine Rolle, wie die Destinationen organisiert sind. Hauptsache, das Marketing und die Angebote sind sauber aufeinander abgestimmt.
Zum Schluss zu Ihnen: Sie führen drei Hotels und zwei Tourismusorganisationen, sind Wirtschaftsberater, Familienvater und Musiker. Muten Sie sich da nicht etwas viel zu?
Meine Tochter wurde mal in der Schule gefragt, was ihr Vater beruflich macht. Nachdem sie alles aufgezählt hatte, sagte die Lehrerin: «Puh, das ist aber viel!» Woraufhin meine Tochter ganz locker meinte: «Das ist nicht so schlimm, Schaffen ist sein Hobby!» (lacht)
Ich arbeite wirklich sehr gerne mit Leuten zusammen, die etwas vorantreiben wollen. Dann spielt es auch keine Rolle, ob eine Sitzung bis 17 oder 19 Uhr geht. Ausserdem bin ich jemand, der sich schnell und gut erholt. Nach einem Tag sage ich meistens schon: «Jetzt müsste mal wieder was gehen.» Das einzige, das im Moment leidet, ist meine Musik. In dem Bereich plane ich erst für 2026 wieder ein grösseres Projekt.