Work-Life-Wahnsinn: Wir schaffen das!
07.11.2025 PolitikVon politischen Stürmen bis zum Tanz durchs Wohnzimmer: Anita Luginbühl weiss, wie man den Kopf über Wasser hält. Beim überparteilichen Frauenforum Thun-Oberland suchte sie gemeinsam mit Frauen aus Politik, Wirtschaft und Medizin nach Wegen, im Work-Life-Wahnsinn ...
Von politischen Stürmen bis zum Tanz durchs Wohnzimmer: Anita Luginbühl weiss, wie man den Kopf über Wasser hält. Beim überparteilichen Frauenforum Thun-Oberland suchte sie gemeinsam mit Frauen aus Politik, Wirtschaft und Medizin nach Wegen, im Work-Life-Wahnsinn gesund zu bleiben.
RACHEL HONEGGER
Bereits die Grussbotschaft zur Eröffnung des Abends von Regierungsrätin Evi Allemann hat es in sich. Die Politikerin zeigt sich verletzlich, offen und von einer privaten Seite. Sie habe im Arbeitsleben erst lernen müssen, mit allen Erwartungen umzugehen. Oft sei sie in einen Rechtfertigungsmodus verfallen, wenn sie wieder und wieder – beispielsweise bei Abendterminen – leicht vorwurfsvoll gefragt worden sei, wo sie denn ihre Kinder gelassen habe. Doch dieser Rechtfertigungsmodus, der Versuch, es allen recht zu machen, ermüdet. Auch sie sei müder und müder geworden und habe realisiert: Irgendwann endet dieser Weg in Krankheit. Und so habe sie begonnen, mit Humor darauf zu reagieren: «Meine Kinder? Sie stehen draussen im Regen und warten auf mich.» Oder: «Ich habe sie auf dem Spielplatz gelassen, ich hole sie später wieder ab.»
Den Humor nicht verlieren und eigene Freiräume einplanen – dies sind zwei wichtige Botschaften von Evi Allemann. Sie notiere sich in ihrem Kalender immer wieder Termine mit sich selbst.
Stress ist nicht nur schlecht
Bei der Selbstfürsorge knüpft auch Esther Pauchard an – Psychiaterin, ehemals leitende Ärztin unter anderem in der Jugendpsychiatrie, sowie Krimiautorin. Bei ihrem Referat wähnt man sich eher in einem Kleinkunsttheater als an einem überparteilichen Forum. Pauchard könnte durchaus als Komödiantin durchgehen. Es sind ihre Schlagfertigkeit, ihr Humor, ihr leicht satirischer Ansatz, die in der Summe die doch sehr ernste und nachdenklich stimmende Botschaft so gut verdaulich machen.
«Es ist eine irrwitzige Zeit. Ich bin über!utet, überschwemmt, bin Opfer der Aussenwelt», beginnt sie und fährt pointiert fort: «Die Opferhaltung liegt da gar nicht so weit weg.» Es liege nahe, die Probleme – vor allem aber auch die Lösungen – im Aussen zu suchen. Und da komme die Selbstwirksamkeit ins Spiel, die für sie gerade in heutiger Zeit eines unserer wichtigsten Werkzeuge sei.
«Die Überzeugung: Ich kann auch schwierige Situationen selbst bewältigen. Das kann in Arbeit ausarten, das kann nerven. Aber es führt auch zu einem guten Selbstwertgefühl, und man traut sich etwas zu.» Und so fährt sie fort: «Man traut sich etwas zu und wird belastbar.» Denn Belastbarkeit entstehe in der Belastung – und nicht in der Schonung. Es sei dies eines der grössten Missverständnisse der heutigen Zeit. Stress werde nur negativ aufgefasst; man denke sofort an stressbedingte Krankheiten.
«Wenn man ‹Stress› bei Google eingibt, dann erscheint ein Gruselkabinett: Krankheiten betreffend Herzkreislaufsystem, Immunsystem, Krebs sowieso …» Dafür werde Selbstfürsorge grossgeschrieben.
Der beste Weg ist Konfrontation
Doch Selbstfürsorge bedeute nicht, sich zu schonen und allem zu entziehen, sondern sich den Krisen zu stellen – dabei aber auf die eigenen Ressourcen und Grenzen zu achten. Gerade bei den Jugendlichen, mit welchen sie gearbeitet habe, habe sie beobachtet, dass diese sich immer mehr zurückzogen, der kleinsten Belastung auswichen – im Glauben, dies sei Selbstfürsorge.
«Das habe ich bei jungen Menschen in der Klinik so oft gesehen. Das hat mich beelendet. Sie gehen nicht mehr zur Schule, nicht mehr zur Arbeit – im ersten Moment führt das zu einem Aufatmen: Endlich ist der Druck weg. Sie haben das Gefühl ‹ich bleibe zu Hause, muss gerade nichts mehr leisten und dann wird es besser›. Aber im Gegenteil: Es löst sich gar nichts. So wird die Welt draussen immer bedrohlicher und sie selbst werden immer kleiner. Das wird zum Teufelskreis. Viele sind durch Schonung, durch Rückzug krank geworden, dadurch, dass sie sich nichts mehr zugetraut haben.»
Pauchard relativiert: Einmal vermeiden sei kein Problem. Aber wenn es zur Regel werde, zur Königsdisziplin, dann sei dies ein Krankheitsfaktor. Dabei wäre der beste Weg die Konfrontation.
Muskeln muss man auch trainieren …
In anderen Bereichen sei uns dies klar. Niemand habe das Gefühl, man werde muskulös und fit, indem man zu Hause auf der Couch liege. Auch das Immunsystem müsse trainiert werden: «Das Schlimmste ist, wenn wir zu sauber leben, im Sterilen. Dann hat unser Immunsystem keinen Dreck, um zu üben. Und das ist mit unserer Psyche ähnlich. Wir brauchen Herausforderungen und Belastung, damit wir uns entwickeln können.»
Wenn sie auf ihr Leben zurückschaue, erzählt Esther Pauchard, dann sei sie nicht in den Momenten gereift und gewachsen, als sie in den Ferien am Strand lag, sondern in Krisenzeiten. Natürlich gebe es destruktiven, chronischen und gefährlichen Stress. Aber rote Phasen – Zeiten, die stressig sind – würden uns nicht schaden, wenn sie sich mit grünen, weniger belastenden Phasen abwechseln. Selbstfürsorge heisse also weder Vermeidung noch Schonung noch «Ich verziehe mich beim kleinsten Problem unter das Duvet». Sondern: sich selbst gut wahrnehmen, Verantwortung für sich übernehmen, spüren, wann es wirklich zu viel ist, und dann Gegenmassnahmen ergreifen.
Dankbarkeit, Genuss und Humor
Ein weiteres wichtiges Thema, wie «Frau», ja wie jeder und jede gesund bleiben könne, sei die Akzeptanz. Akzeptanz, führt Pauchard aus, sei sozusagen unser Stromsparmodus. Wenn wir akzeptieren, was wir nicht ändern können, dann würden wir Energie sparen und nicht in eine Opferhaltung verfallen.
«Egal, wie gut wir etwas machen, wir werden nie 100 Prozent eines Problems beein!ussen können – aber auch nicht null Prozent. Dazwischen ist aber vieles möglich. Und wenn wir nur schon 20 oder 30 Prozent beein!ussen oder für uns verändern können, dann bringt uns das viel.»
Weder wir selbst noch unsere Umwelt noch unsere Mitmenschen seien ideal. Wenn wir dies verstehen würden, dann hätten wir schon ganz viel geschafft, bringt es Esther Pauchard auf den Punkt. Was ihr bei dem ganzen Work-Life-Wahnsinn persönlich helfe? Drei Dinge: Dankbarkeit, Genuss und Humor! Mit ganz viel Humor führt auch Radiomoderatorin und Abenteurerin Maria-Theresia Zwyssig durch die anschliessende Podiumsdiskussion. Ihre Gäste aus Wirtschaft, Politik und Medizin sind Nathalie Hauenstein – Managing Director der Hauenstein Hotels –, Anita Luginbühl aus Krattigen – Geschäftsfrau, ehemalige Grossrätin und Gründungsmitglied der Berner BDP – sowie Esther Pauchard, die ebenfalls in der Runde Platz nimmt.
Was ist Wahnsinn?
Zwyssig eröffnet die Diskussion mit den Fragen: «Was versteht ihr unter Wahnsinn?» und: «Wann habt ihr in den vergangenen Wochen Work-Life-Wahnsinn erlebt?» Schon sind die vier Frauen mitten im Thema – selbstkritisch, nachdenklich und immer mit einer grossen Prise Humor. Zur Sprache kommen Themen wie gesellschaftlicher Druck, Erwartungen, Vorbilder, Gesundheit und vieles mehr. Anita Luginbühl betont, dass der gesellschaftliche Wandel gerade in Bezug auf Frauen nicht nur neue Freiheiten mit sich bringe, sondern auch neue Herausforderungen und Druck. Früher habe man sich nicht rechtfertigen müssen, wenn man als Hausfrau arbeiten wollte – dafür vielleicht eher, wenn man sich gegen Kinder entschied. Heute habe sich hier vieles gewandelt: «Es ist nicht einfach, heute alles unter einen Hut zu bringen und diesen Ansprüchen gerecht zu werden.»
Geheimrezepte gegen Stress
Moderatorin Zwyssig will es an diesem Abend aber nicht nur bei Worten belassen. Sie fordert ihre Diskussionsteilnehmerinnen auf, eine Übung oder ein Geheimrezept gegen Stress vorzustellen und – wenn möglich – gleich live mit dem Publikum durchzuführen.
Und so atmen 150 Frauen nach Anleitung von Esther Pauchard den Stress weg, notieren zusammen mit Nathalie Hauenstein anhand der Übung ELDF ihre kürzlich erzielten Erfolge, die Learnings, wofür sie dankbar sind und was heute Freude bereitet hat.
Anita Luginbühl erzählt, ihr bewährtes Mittel gegen Stress sei, einen Glückstee aus ihrer Tasse «Anita» zu trinken und dabei ganz bewusst 15 Minuten auszuschalten: «Manchmal höre ich einem Vogel zu, höre Gotthard oder Bach oder ich drehe die Musik laut auf und tanze durchs Wohnzimmer.» Auch Gartenarbeit helfe ihr: «Zwüschedüre ohni Händsche go dräckele!»
Dann gibt Luginbühl noch ein Schmankerl aus der Vergangenheit zum Besten: der Zeit, als sie – damals noch in der SVP – feststellen musste, dass einige Exponenten dieser Partei nicht das vertraten, wofür sie selbst einstand, und realisierte: «Das macht mich krank. Das hat mich gesundheitlich wirklich beansprucht. Ihr glaubt es nicht», erzählt sie mit einem breiten Schmunzeln, «ich habe zwischendurch von Ueli Maurer geträumt!» Der ganze Saal bricht in schallendes Lachen aus und Anita Luginbühl fährt fort: «Das hat mich so beschäftigt, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie gross dieser Druck war – die Vorwürfe, wir seien Verräter, weil wir anders sein wollten. Und dann der Befreiungsschlag hin zur Mitte – der war absolut cool.»
Luginbühl erzählt, was sie damals während der Gründungszeit der BDP als besonders wertvoll empfunden habe: «Wir hatten Groove, wir haben einander geholfen, wir hatten keine Geschäftsstelle und haben alles selbst gemacht – die Couverts zusammengeklebt und für die Sache gelebt. Das het gfägt!»
So geht die Diskussion in die nächste Runde über – zum Thema Mut, den es brauche, um sich dem Work-Life-Wahnsinn zu stellen.
Die Lösung liegt in uns selbst
Bevor sich der inspirierende und anregende Abend dem Ende entgegen neigt und beim Apéro riche ausklingt, versammeln sich alle anwesenden Frauen, die für ein politisches Amt kandidieren, zum Gruppenfoto. Maria-Theresia Zwyssig schliesst die Diskussion mit den Worten: «Vom heutigen Abend nehme ich die lösungsorientierte Denkweise als Ansatz mit – und dass die Lösung in uns selbst zu finden ist!»
Schliesst man den Kreis zur Anfangsrede von Esther Pauchard, dann geht es wohl darum, genau diesen Selbstwert als Gesellschaft wieder zu fördern. Nicht nur mit dem Finger auf die Jungen zu zeigen, die nicht mehr belastbar sind, sondern dieser Generation auch wieder mehr Belastung zuzumuten und nicht alle Hindernisse aus dem Weg räumen zu wollen.
Dies bedeutet aber auch, dass jeder und jede es aushalten muss, wenn es gilt, gemeinsam durch Krisen hindurchzunavigieren, statt sie zu umschiffen.



