Zwischen Gefühl und Realität – Preisstabilität in der Schweiz
22.08.2025 WirtschaftIn einem ersten Artikel («Frutigländer» vom 22. Juli 2025) wurde das Phänomen der «Teuerung» in Verbindung zur «gefühlten Inflation» gebracht. Ebenso wurde die soziale Selektion (Existenzminimum, Mittelschicht, Reiche) bezüglich der ...
In einem ersten Artikel («Frutigländer» vom 22. Juli 2025) wurde das Phänomen der «Teuerung» in Verbindung zur «gefühlten Inflation» gebracht. Ebenso wurde die soziale Selektion (Existenzminimum, Mittelschicht, Reiche) bezüglich der «Preisspreizung» betrachtet. In einem ausführlichen Gespräch mit den Spezialisten der Berner Kantonalbank, Thomas Fischer, Chief Investment Officer, nlagechef EKB, und Jannik Zwahlen, Leiter Nachhaltiges Anlegen BEKB, beide vom Hauptsitz am Bundesplatz in Bern, konnte der «Frutigländer» Ende Juli hier ansetzen und das Thema erneut aufgreifen.
Zuerst sollte das Phänomen der «gemessenen Inflation» von einer «gefühlten Inflation» (siehe Artikel 1) getrennt werden. Und selbstverständlich sollte dabei – in der Diskussion mit den Fachleuten der BEKB – das nicht immer gut greifbare Phänomen der «Inflation» selbst erklärt werden. So entstand eine intensive Diskussion zwischen allen Beteiligten, deren Ergebnisse im Folgenden darstellt werden.
Kann man Inflation «sehen»?
Natürlich kann man Inflation nicht im wörtlichen Sinn sehen. Aber man kann sie beobachten, dann nämlich, wenn sich die Konsumentenpreise auf breiter Front anheben. Heben sich nur die Preise einzelner Warengruppen an, der Rest bleibt aber auf demselben Niveau, ist das zwar noch keine «echte» Inflation, aber «sehen» und «wahrnehmen» kann man sie gleichwohl.
Ein Beispiel: Kommt es (wegen einer verbreiteten Kartoffelfäule, wie das 2024 häufiger vorkam) zu einer Missernte bei Kartoffeln – wir stellen uns dabei vor, dass nur der Binnenmarkt betroffen ist und ein Import das nur unzureichend ausgleichen kann –, werden Kartoffeln teurer werden. Eine Inflation ist das noch lange nicht; man kann das aber sicher als temporäre «Teuerung» spüren. Ein anderes Beispiel wären verkehrsbedingte Lieferengpässe bei bestimmten Produktgruppen. Man stelle sich nur vor, bestimmte Medikamente, die «am andern Ende der Welt» hergestellt werden, hingen in entfernten Häfen fest und kämen nicht in die Schweiz: Auch das bedeutet nicht gleich «Inflation», würde aber vermutlich zu einer selektiven Teuerung führen.
«Gefühlte Inflation», darauf haben die beiden Fachleute der BEKB aber hingewiesen, hat noch eine Art zeitliche Komponente: Die meisten Menschen haben sich irgendwann mal einen Standardpreis für ein oft gebrauchtes Produkt eingeprägt. Man misst aber nicht täglich und sammelt schon gar nicht Preisreihen.
Und so kommt es, dass man sich vor ein paar Jahren eingeprägt hat: «Die Tasse Kaffee kostet in Bern Fr. 3.20.» Heute kostet sie aber in der Regel rund um den Bundesplatz Fr. 4.70 oder sogar mehr. Das ist ein «Fühlen aus der Erinnerung» und man sagt «Kaffee wird immer teurer.»
Inflationäre Tendenzen spüren
Auch das ist noch keine Inflation, aber hier zeigen sich in der «gefühlten» Betrachtung, erste Anzeichen einer Inflationsgefahr: In der Gastronomie haben sich nämlich in den vergangenen Jahren einzelne Teuerungen «aufeinandergetürmt» (beispielsweise Mieten, Personalkosten, Material etc.) und tragen nun zu einer inflationären Tendenz auf breiterer Front bei.
Im ersten Artikel («Teuerung») haben wir das Produkt «Reis» betrachtet, das auch erkennbar teurer wurde, aber im Warenkorb des «Landesindex» nur mit 0.049 Prozent zu den Grundkosten eines «typischen» Haushalts beiträgt. Auch Reis ist also kein Inflationstreiber, viel zu klein ist sein Anteil an den Gesamtkosten eines Haushalts.
Andererseits wurde aber in dem Gespräch am Bundesplatz auch das Krankenkassenthema mit offenem Ergebnis diskutiert. Denn diese Kosten werden nicht zum Warenkorb des Bundesamt für Statistik gezählt, und die Meinungen dazu gehen auseinander.
Die Rolle der Krankenkassen und die Frage nach der Inflation
Denn alle Gesundheitskosten beinhalten eine «Wertschöpfung», Dienstleistungen und Produkte, so zum Beispiel Honorare für ärztliche Behandlungen oder Kosten der Medikamente.
All das sind Leistungen, die gemessen und nicht nur «spürbar» teurer werden. Krankenkassen reichen das Geld der Versicherten also keinesfalls «nur weiter», wie man zugunsten des heute gül tigen Systems anführen könnte, sondern sie sind quasi «Bezahl-Agenten» der Versicherten. Viele meinen aber, dass Prämien der Krankenkassen in den Warenkorb des Bundes hineingerechnet werden sollten.
Die Spezialisten der BEKB halten dem aber entgegen, dass Krankenkassenprämien nicht in den LIK gehören. Ansonsten entsteht die Gefahr einer Doppelzählung (medizinische Komponenten sind im LIK berücksichtigt, einerseits über Preise, andererseits auch über deren Gewichtung).
Zudem beinhalten besonders die Grundtarife der Krankenkassen vereinfacht gesagt eine «Solidaritätskomponente», die andere Versicherte zumindest im Grundsatz unterstützt. Weiter entstehen auch eigene Verwaltungskosten der Kassen. Dies alles führt in weiten Teilen der Bevölkerung zu einer echten Verteuerung.
Der Klärungsbedarf, der sich hier noch ergibt, erfordert aber eine andere Anfrage, da war man sich schnell klar: schon am Bundesplatz, beziehungsweise davon abgeleitet beim Bundesamt für Statistik, aber nicht bei der Kantonalbank.
Zusammenfassend: Noch bleibt der Schweiz also eine dauerhaft hohe Inflation im Sinne einer starken Preissteigerung auf breiter Front erspart. Trotz Mietpreisen und Gesundheitskosten stimmt es also, dass das Preisniveau recht stabil bleibt. Was aber auch heisst, dass es einzelne Produkte und Dienstleistungen gibt, bei denen die Preise mittelfristig gefallen oder doch gleichgeblieben sind und die Steigerungen in anderen Sektoren kompensiert haben.
Wie wird Inflation gemessen und dargestellt?
Das Wort «Inflation» kommt aus dem Lateinischen und bedeutet «Aufblähung». Gemeint war vor langer Zeit, in den Jahrzehnten, in denen die damals so genannte «Nationalökonomie» entstand, dass die Geldmenge eines Landes gegenüber der in einem Land produzierten Warenmenge «aufgebläht» wird.
Sehr vereinfacht gab es historisch Beispiele, in denen man bei Bedarf zusätzliches Geld gedruckt hatte, ohne dass in dem jeweiligen Land mehr produziert wurde. Zum Beispiel für militärische Zwecke, wenn man einen Krieg führen wollte. Damit waren Käufer (Konsumenten, Unternehmen, Staaten) bereit und in der Lage, für dieselbe Warenmenge mehr zu bezahlen, beziehungsweise sie überhaupt zu bezahlen. Nach und nach – so die ursprüngliche Theorie – steigt damit auch das Preisniveau an.
Schon vor über 100 Jahren löste, als einer der ersten, der amerikanische Ökonom Irving Fisher die Berechnung von Geldmenge und Preisniveau von den produzierten Gütern eines Wirtschaftsjahres. Stattdessen versuchte er, die Berechnung des Preisniveaus an die Anzahl der Marktprozesse und damit an das zu binden, was er die «Umlaufgeschwindigkeit des Geldes» nannte. Das hiess aber nichts anderes als: Die Summe aller Verkäufe in einem geschlossenen Markt ist gleich der Summe aller Zahlungen in diesem Markt. So banal das klingt, es war eine interessante These.
Doch Fishers Verfahren war mathematischer Art. Die Herausforderung war, die im jeweiligen Zeitpunkt korrekte Geldnachfrage zu schätzen. Die Geldmengensteuerung wurde in der Schweiz erst um die 2000er-Jahre abgelöst. Anders gesagt geht man heute davon aus, dass man eine Volkswirtschaft damit kaum nachhaltig steuern kann.
In einer international stark vernetzten Volkswirtschaft wie derjenigen der heutigen Schweiz hat sich aber – wie in vielen anderen Volkswirtschaften auch – im Laufe der vergangenen Jahrzehnte eine Politik durchgesetzt, die sich auf Englisch «inflation targeting» nennt, also etwa «zielgerichtete Inflationssteuerung». Die Menge der im Inland produzierten Waren und Dienstleistungen für die Bildung des Preisniveaus ist dabei immer unwichtiger geworden.
Andere Faktoren spielen dafür heute eine grosse Rolle: zum Beispiel die Stärke des Schweizer Frankens gegenüber anderen wichtigen Währungen etwa, auch Zinsdifferenzen zwischen einzelnen Weltmärkten oder komplexe Marktprozesse wie Nachfrageverhalten oder Warenverfügbarkeit im internationalen Kontext.
Hat «Inflation» nur mit Geld zu tun?
Inflation ist also allem Anschein nach kein ausschliesslich monetäres Problem; sie hat stattdessen vor allem in den Phänomenen der Märkte (Kaufen, Verkaufen, Transportieren, Präsentieren) ihren Ursprung und dort auch einen Teil ihrer treibenden Kräfte. Und es bedarf immer wieder der geldpolitischen Abwägung, welche Massnahmen von Seiten der Wirtschaft und Politik stützend für eine Preisstabilität ergriffen werden können.
«Inflation» wird aber in der Schweiz in aller Regel auch von offiziellen Stellen als «Anhebung des Preisniveaus» kommuniziert, beziehungsweise dargestellt. Einflussfaktoren, die nicht primär mit Geld zu tun haben, werden weit seltener diskutiert. Heute stützt sich die Berechnung und Steuerung der Inflation im Wesentlichen einerseits auf das von den amtlichen Statistikern errechnete Preisniveau (in der Schweiz: der Landesindex), während andererseits die Steuerung der Inflation über die dem Geschäftsverkehr zur Verfügung gestellte Geldmenge erfolgt. Dies geschieht über den «Leitzins» der Nationalbank und insbesondere über die Kreditvergabe der Banken.
In den meisten grösseren Volkswirtschaften ist eine solche Inflationssteuerung eine zentrale geldpolitische Massnahme. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Geldpolitik das langfristige Wirtschaftswachstum optimal durch Preisstabilität unterstützen kann. Preisstabilität, so die Grundannahme, wird durch Inflationskontrolle erreicht. Dies ist auch die politische Aufgabe der Schweizerischen Nationalbank (SNB).
Ist Inflation notwendig?
Inflation scheint in geringem Umfang hilfreich für Wachstum, und – ein Blick über die Grenze – man spricht von Seiten der Europäischen Zentralbank in Frankfurt beispielsweise von einem «Inflationsziel von zwei Prozent». Inflation begünstigt den Strukturwandel insbesondere dann, wenn Preise nicht vollständig flexibel sind. Boom-Branchen können besser bezahlen, sie sind kompetitiver.
Das könnte sich aber als eine nur bedingt belastbare Hypothese erweisen, denn andererseits kann eine erhöhte Inflation gefährlich sein für die mittel- und langfristige Preisstabilität. So ist es hierzulande Aufgabe der SNB, diese Preisstabilität zu überwachen und alle erforderlichen Massnahmen zu treffen, um sie sicherzustellen. Anders als manche Kantone jedoch meinen, da sind sich auch die Fachleute der BEKB einig, ist es nicht die satzungsgemässe Aufgabe der SNB, Gewinne zu erzielen, die dann auf dem Weg der Gewinnausschüttung an die Kantone fliessen können. Andererseits kann es auch nicht Aufgabe der SNB sein, hohe Verluste «einzufahren», da diese am Ende – wenn es besonders «dick kommt» – vom Bund und damit letztlich vom Steuerzahler auszugleichen wären. Ein Beispiel aus dem Ausland ist die Schwedische Nationalbank.
Der letzte Zinsschritt der SNB war jedoch ein klares Zeichen, dass sie im Moment keine Anzeichen für eine Inflation sieht. «Der Inflationsdruck ist gegenüber dem Vorquartal zurückgegangen. Mit der heutigen Lockerung unserer Geldpolitik wirken wir dem tieferen Inflationsdruck entgegen», verkündete am 19. Juni SNB-Präsident Martin Schlegel.
Um Preisstabilität in der Schweiz zu gewährleisten, hat die SNB ab dem 20. Juni die Zinsen für Ausleihungen an die Geschäftsbanken auf Null gesenkt. Dies heisst nichts anderes, als dass eine Geschäftsbank wie in unserem Beispiel die BEKB im Moment, in dem dieser Artikel erscheint, keinen Zins mehr für ihre Reserven bei der Nationalbank erhält. Die Beschaffung von «frischem Geld» erfolgt bei den Geschäftsbanken dann über Kundeneinlagen, den Geldmarkt oder auch über die Ausgabe von Obligationen.
Auf der Basis des ausgeliehenen Geldes kann die Geschäftsbank nun ihrerseits Kredite vergeben, die in der Folge des jüngsten Zinsschritts der SNB vermutlich sehr günstig ausfallen.
Am nationalen Geldmarkt sind daher, dies wurde auch als Hinweis an eventuelle Anleger thematisiert, wenig Zinsen zu erwarten. Anders jedoch bei gut geplanten Investments, etwa in Fonds oder Aktienanlagen. Auch Direktanlagen in Immobilien werden immer wieder diskutiert und sind am Schweizer Markt verfügbar. Für solche Fragen ist man bei allen Schweizer Banken gut aufgehoben.
Wie dauerhaft ist die Preisstabilität?
Darüber gingen bei dem Gespräch mit der BEKB die Meinungen nur geringfügig auseinander. Die internen Preistreiber wie Gesundheitskosten und Mietpreise wurden schon genannt. Ob sie die Preisstabilität dauerhaft gefährden, wird sich zeigen.
Verändertes Konsumverhalten im gesamteuropäischen Markt (Beispiel: aktueller Rückgang des Weinkonsums) spielt aber nur eine untergeordnete Rolle. Zwar wird der verbleibende Wein damit teurer, aber es kommt innerhalb des Nachfrage-Marktes zu einer noch grösseren Preisspreizung: Der teurere Wein oder Champagner wird von einer eher wohlhabenden Schicht nach wie vor gekauft, und preisbewusstere Käufer weichen eventuell auf einfachere Produkte (zum Beispiel Bier oder preiswerter Prosecco) aus.
Externe Risiken könnten die Schweiz jedoch gefährden, etwa ein weiterer Verfall der Leitwährung US-Dollar oder eine krasse Zollerhöhung in wichtigen Märkten. Denn beides hätte ähnliche Effekte, wie auch international tätige Schweizer Unternehmen bestätigen.
Der Dollar-Verfall und die jüngsten Zollerhöhungen haben zusammen bereits jetzt einen klar hemmenden Effekt auf sämtliche wirtschaftlichen Aussenbeziehungen der Schweiz. Auch Kriege oder grössere Katastrophen könnten inflationäre Effekte, aber auch Schrumpfungseffekte (eventuell verbunden mit einer «Deflation») auslösen. Garantien wird es daher auch bei noch so guter Inflationssteuerung keine geben.
MARTIN NATTERER