Wenn das Amt den Blick verändert
04.01.2018 Frutigen, PolitikKonservativ und bibeltreu – so sah sich Stephan Stoller vor acht Jahren. Heute beschreibt er sich noch immer mit diesen Worten, obwohl er als Gemeinderat manche Position überdenken musste: Mehr Kita-Plätze, eine offene Asylpolitik und die Jugendarbeit prägten die Amtszeit des ...
Konservativ und bibeltreu – so sah sich Stephan Stoller vor acht Jahren. Heute beschreibt er sich noch immer mit diesen Worten, obwohl er als Gemeinderat manche Position überdenken musste: Mehr Kita-Plätze, eine offene Asylpolitik und die Jugendarbeit prägten die Amtszeit des EDU-Politikers.
BIANCA HÜSING
Alle zehn Minuten öffnet sich die Tür, kommt ein neues Gesicht zum Vorschein. In den Räumen des Regionalen Sozialdienstes ist nichts von der vorweihnachtlichen Ruhe zu spüren, als Stephan Stoller hier am 12. Dezember seinen letzten Dienst leistet. Nachmittags wird er den Schlüssel an seine Nachfolgerin Annelies Grossen übergeben. Damit endet zugleich das achtjährige Gemeinderatsmandat, das Stoller 2010 zu seiner eigenen Überraschung erhalten hatte. Und etwa so betriebsam wie es im Sozialdienst zugeht, erlebte er auch seine Zeit im zugehörigen Ressort. «Das Soziale ist ein derart komplexer Bereich, dass es Jahre dauert, einen Überblick zu bekommen», so Stoller. Er habe viele Stunden in diesen Räumen verbracht, um sich einzulesen und die verschiedenen Zuständigkeiten des Sozialdienstes zu durchdringen – so viele, dass er persönlich die Amtszeitbeschränkung im Gemeinderat auf zwölf Jahre anheben würde. «Ich hätte mich dem Thema gerne noch länger gewidmet, jetzt, da ich mich richtig damit auskenne.»
«Die schlimmsten Amtshandlungen»
Der Durchlauf im Regionalen Sozialdienst ist symbolträchtig: Kaum ein anderes Ressort unterlag in den letzten Jahren so vielen Veränderungen wie der Bereich Soziales, Jugend und Gesundheit. Als Stoller es übernahm, gab es zum Beispiel noch keine Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB). Für deren Aufgaben war die Gemeinde selbst zuständig, und mit ihr der damals erst 28-jährige Landwirt. Als Präsident der Vormundschaftskommission musste er auch für schwerwiegende Entscheide geradestehen – zum Beispiel die Fremdplatzierung von Kindern. «Das waren für mich als Familienvater die schlimmsten Amtshandlungen», erinnert sich Stoller. «Normalerweise schliesse ich meine Haustür nie ab. In dieser Zeit tat ich es.» Zwar glaubt er, dass die Beschlüsse korrekt waren und sich mehrheitlich als gut fürs Kindswohl herausgestellt haben.
Dennoch ist Stoller froh, dass sie seit 2013 nicht mehr von einer Laienkommission gefällt werden, sondern von einer externen Behörde. «Man kannte die Familien als Gemeinderat oft persönlich. In solchen Fällen ist das nicht gerade hilfreich.»
Die Mehrheit – über 85 Prozent – der Fälle, mit denen die KESB heute zu tun hat, seien jedoch weit weniger dramatisch und gravierend. Deshalb wären sie Stollers Ansicht nach besser beim Regionalen Sozialdienst aufgehoben, welcher der KESB ohnehin zuarbeite. Durch den kürzeren Amtsweg könne der Kanton Kosten sparen. «Als bürgerlicher Politiker muss ich schliesslich auch die Finanzen im Auge behalten», erklärt er.
«Was du erreicht hast, hätte die SP stolz gemacht»
Bürgerlicher Politiker – diese Zuschreibung musste Stoller sich wohl manches Mal ins Gedächtnis rufen. Denn seine Rolle als Sozialvorsteher war nicht unbedingt mit ihr kompatibel. So war er es, der sich für mehr subventionierte Kita-Plätze einsetzte. Auch die Einführung der Schulsozialarbeit und Frutigens Vorreiterrolle in der Asylpolitik unterstützte er. All das tat er als Mitglied der EDU, einer Partei, die inhaltlich der SVP am nächsten steht. Einmal soll Hans Peter Bach im Scherz zu ihm gesagt haben: «Was du erreicht hast, hätte die SP stolz gemacht.» So gibt denn auch Stoller zu: «Ich habe manchen Gesinnungswandel durchgemacht. Je mehr ich von den Aufgaben des Sozialdienstes verstand, desto mehr Zusammenhänge erkannte ich.» Inzwischen glaubt er, dass es die öffentliche Hand langfristig günstiger kommt, wenn Probleme frühzeitig erkannt werden – zum Beispiel in der Regionalen Jugendarbeit, die einen Grossteil von Stollers Amtszeit prägte.
«Trotzdem habe ich nie eine Entscheidung gefällt, die meinem christlichen Glauben widersprochen hätte», betont Stoller etwa mit Blick auf die Asylpolitik. «Es sind Menschen und ihre Geschichten, die da zu uns kommen. Für sie zu sorgen, ist unsere Pflicht als Christen.» Zuvor habe er pauschal die Ansicht vertreten, dass zu viele Ausländer das Volk und seinen Zusammenhalt gefährdeten. Schliesslich brächten sie die Kultur mit, vor der sie geflohen seien. «Aber genau deshalb ist die frühzeitige Integration so wichtig – auch wenn sie Geld kostet», ist Stoller überzeugt. «Das weiss ich heute.»
«Mehr Miteinander im Gemeinderat täte dem Dorf gut»
Obwohl Stoller nicht immer klassische Ansichten seiner Partei vertreten hat, blieb er ihr treu. Und sie ihm. «Als erster Gemeinderat der EDU genoss ich stets deren Vertrauen – auch wenn bei manchem Thema Überzeugungsarbeit nötig war», so Stoller. Auf die gegenseitige Unterstützung baut er weiterhin, wenn er für die Grossratswahlen im März kandidiert. Den Mandatsinhaber Jakob Schwarz möchte er dabei allerdings nicht angreifen. Und ein zweiter Sitz für die EDU wäre Stollers Einschätzung nach nur mit einem insgesamt grösseren Wähleranteil möglich. Seine politischen Ambitionen sind dennoch ernst. So könnte er sich vorstellen, in naher Zukunft mehr Verantwortung innerhalb der EDU Kanton Bern zu übernehmen. Seit 2015 ist er dort bereits im Vorstand.
Ausserdem stellt er sich zur Wahl für die Nachfolge Bruno Grossen-Wirths, der in diesem Jahr als Präsident der Familienkooperation Oberland (ehemals «Sunnehus») zurücktritt.
Auch Frutigens Politik will der Landwirt nicht den Rücken kehren. Seine Kandidatur zum Vize-Gemeindepräsidenten hat er nur deshalb zurückgezogen, weil er eine Kampfwahl auf dieser Ebene für übertrieben gehalten hätte. So überliess er SVP-Bewerber Urs Kallen das Feld. «Hätte ich allerdings vorher gewusst, dass es auch für das Amt des Präsidenten zwei Kandidaten gibt, hätte ich sicher nicht nachgegeben», zeigt sich Stoller im Nachhinein enttäuscht.
Für die Zukunft wünscht er sich und Frutigen, dass parteitaktische Überlegungen keine Rolle mehr spielen. «Mehr Miteinander im Gemeinderat täte dem Dorf gut. Und dessen Wohl sollte schliesslich im Vordergrund stehen, nicht das der eigenen Partei.» Eine weitere Amtszeit als Gemeinderat nach der obligatorischen Pause schliesst Stoller übrigens nicht aus. «Sag niemals nie. Ich bin ja noch jung», so der 36-Jährige.