Historische Tage und weisse Nächte
29.06.2018 Region, SportWM In Russlands Norden bleibts im Sommer fast durchgehend hell. Hansjürg Oswald hat auf seiner Fanreise also genug Zeit, um hinter die Kulisse des Fussball-Rummels zu blicken. Und die ist zwar pompös, zeigt aber auch Risse.
BENJAMIN HALTMEIER
Dass das WM-Wetter im ...
WM In Russlands Norden bleibts im Sommer fast durchgehend hell. Hansjürg Oswald hat auf seiner Fanreise also genug Zeit, um hinter die Kulisse des Fussball-Rummels zu blicken. Und die ist zwar pompös, zeigt aber auch Risse.
BENJAMIN HALTMEIER
Dass das WM-Wetter im Norden mittlerweile etwas rauer und regnerischer daherkommt, ist das eine. Hansjürg Oswald wärmt sich schliesslich gerne wieder mit Borschtsch (Suppe mit Roter Beete) oder Pelmeni (Teigtaschen) auf. Mehr zu schaffen machen dem Fanreisenden aber die langen Tage. «Momentan wird es hier gar nie richtig dunkel», meldete der Emdtaler Anfang Woche aus St. Petersburg. Es wird gefeiert: In den sogenannten «weissen Nächten» herrscht in der Stadt auch ohne WM-Fieber der Ausnahmezustand.
Dass Oswald von der ehemaligen Zarenstadt aus dann per Nachtzug nach Nischni Novgorod zum letzten Vorrunden-Match gegen Costa Rica fuhr, dürfte sein Schlafpensum auch nicht erhöht haben (die Schweiz erreichte dort am Mittwoch den Achtelfinal per 2:2). Andererseits blieben dem Reisenden so mehr Gelegenheiten, um sich mit den lokalen Gegebenheiten vertraut zu machen.
500 Kilometer ohne ein Wort
Die WM-Organisatoren scheinen in Sachen Kommunikation gut aufgestellt zu sein. Am Flughafen, rund ums Stadion – überall stehen gemäss Oswald Volunteers bereit. Sogar bei den Verpflegungsständen am Fan-Fest stünden oft Jugendliche im «I speak English»-T-Shirt, die bei Sprachproblemen weiterhelfen. Im Reisealltag abseits des WM-Rummels hat der Emdtaler allerdings nach wie vor mit Sprachbarrieren zu kämpfen: «Es ist immer eine Frage des Glücks, ob man einen englisch sprechenden Russen antrifft oder nicht.» Als Folge kam es einige Male zu Missverständnissen. Als Oswalds Gruppe einmal mit Händen und Füssen einen Sack bestellte, bekamen sie im Anschluss einen Eiskühler. Einige Einheimischen setzen mittlerweile auf moderne Technik wie etwa digitale Übersetzungsprogramme. «Das Ganze kann dann aber auch zu viel des Guten sein – zum Beispiel, wenn der Taxifahrer eine Konversation via Smartphone-Sprachübersetzer startet, statt auf die Strasse zu achten», berichtet Oswald. Umgekehrt erlebte er ein anderes Mal einen Chauffeur, der eine 500 Kilometer lange Strecke zwar zuverlässig und ohne Zwischenhalt bewältigte – allerdings auch permanent schwieg.
Stadien bauen, Ruinen verdecken
Auch mit der Infrastruktur der Spiele wollen die Gastgeber beeindrucken. Das Stadion in Nischni Novgorod etwa wurde für über 200 Millionen Franken extra für die Weltmeisterschaft erbaut. «Vieles macht den Eindruck, noch schnell vor der WM erneuert worden zu sein», stellt Oswald allgemein fest. Wo das nicht möglich war, habe man die Fassaden verfallener Gebäude einfach mit Bauplachen überdeckt. Auch in den jeweiligen Unterkünften sei wohl einiges eher kurzfristig noch für die ausländischen Gäste hergerichtet worden.
Die Quartiere rund um die Stadien haben sich auch ohne Fussball-Rummel teils stark verändert. In der Exklaven-Stadt Kaliningrad (früher Königsberg) sei ausser dem rekonstruierten Dom praktisch nichts mehr von der ostpreussischen Vergangenheit sichtbar, berichtet der Emdtaler – «irgendwie ein komisches Gefühl, in einer russischen Stadt zu stehen und sich vorzustellen, dass dies einmal eine typisch deutsche Altstadt war.»
In anderen WM-Städten wie Wolgograd folgt den Gästen die Geschichte dagegen noch auf Schritt und Tritt. Die Erinnerung an die Schlacht um Stalingrad wird dort mit viel Pathos inszeniert. Davon zeugt eine monumentale Statue samt gewaltigem Park und Museum.
Die Schweizer Fans in Unterzahl
Und Fussball wird natürlich auch noch gespielt in Russland. Hansjürg Oswald erlebt die Weltmeisterschaft 2018 mehrheitlich als ausgelassene Veranstaltung ohne grössere Konflikte. In Wolgograd verfolgte der Emdtaler bei einem Stopp zwischen Rostov und Kaliningrad etwa die Vorrundenpartie England–Tunesien. «Während in den Medien vom Hass zwischen England und Russland die Rede war, haben wir nur friedliche Szenen beobachtet. Fans aus aller Welt, und insbesondere auch aus verschiedenen Kulturkreisen, feierten gemeinsam und posierten für Fotos.»
Die hierzulande hitzig diskutierte «Doppeladler-Affäre» rund um den Torjubel der Schweizer Nationalspieler Xhaka und Shaqiri warf in Russland anscheinend ebenfalls weniger hohe Wellen. Oswald bekundete vor dem Match zwar gewisse Bedenken, da die Schweizer Fans «eindeutig in der Unterzahl waren und sich die Russen mit den Serben offensichtlich ‹verbrüdert› hatten». Nach dem Schweizer Sieg seien negative Reaktionen rund ums Stadion aber weitgehend ausgeblieben.