Eine Proviant-Verpackung wie vor 4000 Jahren
30.10.2018 Frutigen, KulturLange vor unserer Zeitrechnung wurde der Lötschenpass bereits begangen. Das legen mehrere Funde nahe. Charly Bühler versucht heute, die älteste deklarierte Proviantbüchse nachzubauen – für eine Reise durch die Vergangenheit.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Charly Bühler ...
Lange vor unserer Zeitrechnung wurde der Lötschenpass bereits begangen. Das legen mehrere Funde nahe. Charly Bühler versucht heute, die älteste deklarierte Proviantbüchse nachzubauen – für eine Reise durch die Vergangenheit.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Charly Bühler (76) ist unermüdlich. Gerade biegt er mit Hilfe eines Lederbandes ein Stück Weidenholz um einen urigen runden Klotz. Es sieht improvisiert aus, und er weiss nicht, ob sein Vorgehen stimmt. Niemand weiss das heute mehr, denn er fertigt Behälter aus Spänen respektive Schindeln an, wie sie vor etwa 4000 Jahren benutzt wurden. Als Vorbild dienen Bühler Abbildungen neolithischer Fragmente aus der Frühbronzezeit vom Lötschenpass. Dort tauchen immer wieder neue Funde aus dem schmelzenden Gletscher auf, darunter Pfeilspitzen oder eben eine verfallene Spanschachtel. Ausser der Art des verwendeten Materials – Arve für den Boden und Weide für die Wände – muss er für die Rekonstruktion des Behälters alles selber herausfinden, zum Beispiel mögliche Fertigungstechniken.
Kein Spaziergang über die Alpen
«Für mich ist das eine Herausforderung, die ich gern annehme», sagt Charly Bühler in seinem Atelier in der Nähe des Historischen Bahnhofes Frutigen. In der einfachen Baracke, in der früher Schiefertafeln gefertigt wurden, hat er sich seine Werkstatt eingerichtet. Früher betrieb er in Wengi die Spanschachtelfabrik und das Spanschachtel-Museum. Seine jahrzehntelange Erfahrung mit dem Werkstoff Holz macht ihn zum Fachmann. So ist Christian Havenith mit dem Projekt «Geschichte erwandern» auf ihn gekommen. In seinem Auftrag fertigt er runde Behälter von etwa 20 Zentimeter Durchmesser an. Gedacht sind diese für eine Reise im nächsten Jahr. Die Gruppe will eine Alpenquerung wie vor 4000 Jahren machen, eine Filmcrew dreht eine Dokumentation darüber (siehe Kasten).
Richtig oder falsch?
Aufgrund von Fotos der Fundstücke weiss Charly Bühler, wie das Resultat aussehen sollte. Er tüftelt nun herum, investiert viel Zeit in die Recherche und den Bau von historischen Werkzeugen. Ein Beispiel: Statt einer modernen Klemmzwinge schnitzt er einen Schlitz in einen kleinen Holzpflock, um so die gebogenen Späne zu fixieren. «Vielleicht haben es unsere Vorfahren damals so gemacht. Vielleicht liege ich aber auch völlig falsch.» Damals, das bedeutet rund 2200 vor Christus. Aus dieser Zeit stammen die Funde auf dem Lötschenpass. Bühler freut sich natürlich, dass dort 2017 auch Fragmente einer Spanschachtel gefunden wurden. «Es ist die älteste Verpackungsart, die wir kennen», betont er. Erst Ende des 19. Jahrhunderts kamen Kartonschachteln und Konservenbüchsen auf den Markt und noch viel später der für die Umwelt problematische Kunststoff.
Staunen über die Vorfahren
Das Original vom Lötschenpass lagert eingefroren beim Archäologischen Dienst in Bern, zusammen mit ähnlichen Funden vom Schnidejoch. So bleibt deren Zustand erhalten. Diese Funde beim Übergang von der Lenk ins Wallis haben seinerzeit ein grosses Echo ausgelöst. «Rein von der Machart her könnte es sogar derselbe Schachtelmacher sein, der die Proviantbehälter vom Schnidejoch und vom Lötschenpass gefertigt hat», spekuliert Bühler. Den Fachmann erstaunt dabei immer wieder, dass damals bereits Massivholz in dünne Schindeln aufgespalten und mit Kochen oder unter Dampf um Modelle gebogen werden konnte. Das ist eine Grundvoraussetzung, um Behälter bauen zu können.
Interessant auch für den Tourismus
Mit einem glühenden Eisen bohrt Bühler Löcher in die etwa drei Millimeter dicke hölzerne Seitenwand, verbindet die Enden mit flexibler Weide, stellt diese auf den Schachtelboden. Es passt! «Mit solch einfachen Hilfsmitteln war es damals wohl möglich, diese Proviantbehälter zu fertigen.» Bühler muss auch Kompromisse eingehen: Arve war vorerst schlicht nicht vorrätig. Er verwendete für die ersten Proviantschachteln deshalb Tannen- und Lärchenholz. Etliche Versuche hat er hinter sich, und bei Weitem nicht alle sind von Erfolg gekrönt gewesen. Die ersten Prototypen sind den Auftraggebern geschickt worden. Im Endeffekt soll er zwei Exemplare für die Reisegruppe sowie einige weitere für den Archäologischen Dienst anfertigen.
Für den Frutiger ist die Rekonstruktion faszinierend. Zudem möchte er mit seiner Arbeit auf die historischen Verkehrswege «direkt vor unserer Haustüre» aufmerksam machen – insbesondere auf die Tatsache, dass der Fund auf dem Lötschenpass als «Ur-Proviantbüchse» in Fachkreisen Schlagzeilen machte. Das Thema habe auch einen positiven touristischen Aspekt, wenn das Frutigland in diesem Zusammenhang in den Medien Erwähnung finde.
Geschichtsdarsteller unterwegs auf römischen Handelswegen
Eine Gruppe von Geschichtsinteressierten um den Deutschen Christian Havenith will nicht nur in der Theorie wissen, wie eine Alpenüberquerung vor 4000 Jahren möglich war. Das Projekt heisst «Geschichte erwandern». Die Gruppe wagt 2019 den Selbstversuch mit möglichst originalgetreuen Materialien und Gegenständen. Havenith – studierter Biologe und Gärtner – erklärt: «Ursprünglich wollten wir den traditionellen Handelsweg über den Lötschenpass begehen. Doch der ist teilweise zu steil, vor allem der Abstieg im Süden. Zudem kann das Wetter sehr rasch ändern.» Vorgesehen ist nun für 2019 die sicherere Wanderung auf der Römerstrasse Via Claudia Augusta von Füssen nach Meran. Sie bezeichnen sich als Geschichtsdarsteller und sind in möglichst realitätsgetreu angefertigten Materialen unterwegs, das geht von den Kleidern bis zum Gepäck, wie er erklärt. «Wir gewöhnen uns schon jetzt bei einem Treffen an die Beschaffenheit römischer Wege. Und wir diskutieren beispielsweise in der jetzt laufenden Vorbereitung die Ausrüstung. Moderne Unterwäsche oder möglichst authentische? Gab es zur Keltenzeit Socken? Tragen wir welche? Wie transportieren wir Wasser und Lebensmittel?» Und da kommen Charly Bühlers Spanschachteln ins Spiel. Der erste Prototyp war nicht dicht, der Inhalt rieselte heraus. Havenith hofft nun auf eine neue und verbesserte Version aus Frutigen. Für die deutschen Geschichtsdarsteller wird es die dritte solche Wanderung, wobei die Teilnehmer jeweils wechseln. Hauptorganisator Christian Havenith erklärt die Wanderungen mit der Bedeutung von Handel, Transport und Verkehr von A nach B – «wir bewegen uns auch von A nach B, geographisch und durch die Geschichte».
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TV-Aufnahmen vom Lötschenpass
Eiszeitliche Funde, die Gletscherschmelze und der Klimawandel sind bereits mehrfach Thema in Dokumentationen von Spiegel TV gewesen. Die Alpenüberquerung ist auch medial wieder von Interesse. Dieses Jahr fand ein Probelauf statt. Der Deutsche Frank Gensthaler ist dafür als Autor und Regisseur im Auftrag von Spiegel TV engagiert worden. Er ist für Aufnahmen auf dem Lötschenpass gewesen und wird im November in Frutigen auch die Fabrikation von Spanbehältern bei Charly Bühler aufnehmen. «Die Kernfragen der Dokumentation sind ‹Wie haben die Menschen damals gelebt?› und ‹Wie helfen die Funde bei der Rekonstruktion des damaligen Geschehens›, wie Gensthaler erklärt. Die Ausstrahlung der Sendung ist im Laufe des nächsten Jahres geplant.
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