«Der Beruf fasziniert mich noch wie am ersten Tag»
19.10.2018 Aeschi, Aeschiried, GesellschaftPORTRÄT Wenn Franz Cotting morgens die Rega-Einsatzbasis betritt, weiss er nie, was ihn erwartet – der Alltag des Aeschiner Piloten ist unberechenbar und manchmal traurig.
YVONNE BALDININI
Die Wolken hängen an diesem Herbsttag tief über den Bergen. Ruhe liegt in ...
PORTRÄT Wenn Franz Cotting morgens die Rega-Einsatzbasis betritt, weiss er nie, was ihn erwartet – der Alltag des Aeschiner Piloten ist unberechenbar und manchmal traurig.
YVONNE BALDININI
Die Wolken hängen an diesem Herbsttag tief über den Bergen. Ruhe liegt in der Luft. Doch die Stille trügt. Franz Cotting fährt trotz des schlechten Wetters seinen inneren Aufmerksamkeitspegel hoch. Er weiss: 15 Minuten später könnte er neben einer überfahrenen oder durch eine Motorsäge schwer verwundeten Person stehen. Eine legere Haltung im Stile von «heute passiert sowieso nichts» wäre verfehlt: «Es kommt immer alles anders», so seine Erfahrung.
Eine Frontalkollision mit mehreren Schwerverletzten oder ein Herzinfarkt bei einem Gast aus Gstaad – da zählt jede Sekunde. Oft werden auch Patienten von einem Spital ins andere verlegt. So gut wie gewiss ist eine Alarmierung in der Ferienzeit bei strahlendem Sonnenschein. «Bewegen sich viele Menschen – etwa auf dem Töff, mit dem Gleitschirm, am Berg oder im Acker – geht das leider nicht immer für alle gut aus», bedauert der Aeschiner. Die Rettungsflugwacht in Zweisimmen rücke im Winter häufig für verunfallte Schneesportler und im Sommer für verletzte Bergsteiger und Motorradfahrer aus. Nur wenn das Wetter richtig garstig ist, bleibt es im Rega-Hangar manchmal still. Franz Cotting erlebt somit Tage mit acht aufeinanderfolgenden Einsätzen – und solche mit keinem einzigen.
Keine Minute Langeweile
Cottings Schicht auf der Basis startet heute um acht Uhr. Im Ernstfall muss er fünf Minuten später in der Luft sein können. Mit ihm bereiten sich Notarzt und Rettungssanitäter auf einen möglichen Einsatz vor. Der Pilot hat bereits das Gewicht der dreiköpfigen Crew, der Ausrüstung und des Treibstoffs ins System eingegeben. Ausserdem muss er Aussentemperatur, Luftdruck, Wind und die Lufträume kennen. Zwei Mechaniker aus dem Rega-Center am Flughafen Zürich zeigen der Mannschaft Unterhaltsarbeiten am Helikopter.
Und wenn heute kein Alarm ertönt? «Ich habe es in meinen 14 Dienstjahren nie geschafft, mich nur eine Minute zu langweilen», antwortet der 49-Jährige. Einmal pro Tag kontrolliert er den Hubschrauber. Bleibt sonst noch Zeit, büffelt er für Flugprüfungen, entwirft Pläne für Evakuationsübungen oder organisiert das jährliche Rettungswinden-Training für die Ärzte. Stehen keine Einsätze an, übt die Crew den Umgang mit medizinischen Geräten an einer Puppe. Es kommt durchaus vor, dass der Pilot beim Bergen, Einladen oder Reanimieren der Patienten hilft. «Manchmal ist der Arzt dankbar, wenn ich eine Herzmassage übernehme, damit er die Medikamente vorbereiten kann.»
«Es ist nicht an mir, zu urteilen»
Wie erträgt er die teilweise furchtbaren Bilder im Ernstfall? «Das ist mein Job. Klar, ich erlebe viele grausige Anblicke und traurige Situationen – besonders dann, wenn zwei Parteien in einen verhängnisvollen Unfall verwickelt sind», sagt der Oberländer. Nie vergessen wird er einen Rettungsflug im Waadtland. Ein 16-Jähriger war auf der Skipiste mit einer 6-Jährigen zusammengeprallt. Die Mutter des Jugendlichen hatte die Rega alarmiert. «Der Vater des Mädchens war völlig aufgelöst. Ebenso der unfallverursachende Sohn und seine Mutter», schildert Franz Cotting mit gedrückter Stimme und fügt an: «Alle waren Opfer.» Das kleine Kind starb im Spital.
Auch das Unglück eines Jungbauern und seiner Lehrtochter in der Innerschweiz ging Cotting nahe. Die beiden hatten die Kühe für den Alpabzug geladen und stürzten im Transporter zu Tode. Mindestens einmal im Monat erlebt der Rega-Pilot ähnlich aufwühlende Fälle. Doch nicht immer dreht sich seine Arbeit um Schwerverletzte. «Es ist schön, Menschen in misslichen Lagen zu helfen – etwa Bewohnern eines überfluteten Dorfes oder auf einem Schafweg verirrten Wanderern. Man kann sich ja vorstellen, wie das für einen selber wäre.» Dabei urteile er nie, ob die zu Rettenden sich fahrlässig verhalten hätten oder nicht, sondern erledige seine Aufgabe.
Wetter birgt Gefahren
Wird das Fliegen manchmal gefährlich? «Sobald ich abhebe, ist es im Prinzip heikel. Der Mensch ist ja nicht für die Luft geschaffen», bemerkt Cotting. Dunkelheit, Wind und wenig Sicht erschweren seine Arbeit. Mitunter muss er sich wegen Schlechtwetters für eine Zwischenlandung entscheiden, obwohl er in seiner Maschine einen Schwerverletzten befördert. Bei dichtem Nebel oder starkem Schneefall darf er das betroffene Gebiet gar nicht erst ansteuern. Im Falle eines Lawinenunglücks im Hochnebel setzt er den Rega-Arzt im Tal ab, der wiederum von einem Pistenfahrzeug zur Unfallstelle gebracht wird. Für eine Rettung in unzugänglichem Gelände holt das dreiköpfige Team zusätzlich einen sogenannten Rettungsspezialisten Helikopter ab. Dieser kümmert sich um die Sicherung von Patient und Notarzt. Im ganzen Land sind solche Bergführer in Alarmbereitschaft – zum Beispiel Blüemlisalp-Hüttenwart Hans Hostettler. Den grössten Teil der Einsätze machen jedoch nicht Bergunfälle aus. «Wir landen öfter in einem Dorf wegen eines Herzoder Hirnschlags als im Gebirge», stellt Cotting richtig.
Jungfernflug als Sennbub
Zum Heli-Fliegen kam der Bauernsohn wie die Jungfrau zum Kinde. Als er mit seinen Eltern im Kiental die Kühe sömmerte, landete ein Hubschrauber fälschlicherweise vor seiner Sennhütte. Die Besatzung erkundigte sich beim damals 15-Jährigen nach der richtigen Alp. Er deutete nach Westen und wies zugleich auf gefährliche Kabel hin. Die Mannschaft nahm ihn kurzerhand als Führer mit. Tatsächlich galt es, eine verletzte Kuh direkt bei den Kabeln abzuschleppen. «An schönen Sommertagen verfolgten wir täglich die Helikopter über der Gspaltenhorn- und Blüemlisalphütte. Einmal selbst mitfliegen zu dürfen, war ein grossartiges Erlebnis. Ich musste dann allerdings heimwandern», erzählt er schmunzelnd. Trotz der Heli-Faszination – «kein anderes Fluggerät erreicht diese Bewegungsfreiheit» – hätte Franz Cotting damals nie gedacht, Pilot zu werden. «Doch der Beruf fasziniert mich immer noch wie am ersten Tag», schwärmt er heute. Als Flugfan bezeichnet sich der Naturfreund aber nicht. Er habe nicht nur den Helikopter im Kopf. In der Freizeit geht er lieber z'Berg, im See schwimmen oder er hilft seinem Bruder auf dem Bauernhof.
Alarm aus Adelboden
Plötzlich durchdringt ein lauter Ton die Halle. Ein anderthalbjähriges Kind ist in Adelboden aus dem Bettchen gefallen. Es muss ins Kinderspital Bern transportiert werden. Der Pilot hat eine schwierige Entscheidung zu treffen: Kann er unter der auf 2200 Metern liegenden, geschlossenen Wolkendecke über den Hahnenmoospass fliegen oder wählt er die Route über Wimmis durch das nebelverhangene Engstligtal? Nach kurzer Analyse sind die Würfel gefallen: Der Flug übers Hahnenmoos geht schneller und ist gemäss Wetterstationen und Kamerabildern möglich. Franz Cotting und seine Mannschaft heben ab in den grauen Himmel …
ZUR PERSON
Franz Cotting ist in Aeschi auf einem Bauernhof aufgewachsen, wo er heute noch lebt. Nach der Schule absolvierte er eine Lehre als Landmaschinen- und anschliessend als Luftfahrzeugmechaniker. Er war als Flughelfer und Mechaniker bei der Berner Oberländer Helikopter AG tätig, bevor er sich entschloss, Helipilot zu werden. Seit 2013 ist er vollamtlich bei der Rega angestellt. Neben dieser Tätigkeit erledigt er zwischendurch Touristik- oder Transportflüge für Swiss Helicopter. Dabei steuert er Beton oder Holz zentimetergenau zur Baustelle. Oder er schwebt mit Arabern ab Interlaken über Grindelwalds Gletscherwelt. Wenn die Basis in Zweisimmen während der einsatzarmen Zwischensaison werktags geschlossen ist, verrichtet der Oberländer seinen Dienst auf den Stützpunkten in Wilderswil oder Erstfeld.
YB
3,4 Millionen Gönner
Die Schweizerische Rettungsflugwacht wurde 1952 als private, gemeinnützige Stiftung gegründet. Die Abkürzung «Rega» setzt sich zusammen aus dem deutschen «Rettungsflugwacht» und dem französischen «Garde Aérienne».
Finanziert wird die Organisation mit 380 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu über 60 Prozent aus den jährlichen Beiträgen der knapp 3,4 Millionen Gönner. Als Dank kann ihnen die Rega die Einsatzkosten ganz oder teilweise erlassen, wenn keine Versicherung oder Krankenkasse die Leistungen bezahlen muss. Die übrigen Kosten übernehmen zu einem grossen Teil Kranken-, Unfall- oder Reiseversicherer in Form von Zahlungen für geleistete Dienste.
Im vergangenen Jahr organisierte die Rega-Einsatzzentrale über 15 000 Rettungsflüge mit Helikoptern und Ambulanzjets. Letztere holen regelmässig verunfallte oder erkrankte Personen aus dem Ausland in ein Schweizer Spital. Herzund Kreislaufprobleme führen die Alarmstatistik an – vor Wintersport-, Arbeits- und Verkehrsunfällen.
YB
Rega-Alarmnummer: 1414. Weitere Infos finden Sie in unserer Web-Link-Übersicht unter www.frutiglaender.ch/web-links.html