Zwei Oberländer in Bern
11.12.2018 Frutigen, Kandergrund, Blausee, Mitholz, Politik, RegionREPORTAGE Intensive Wochen liegen hinter Kurt Zimmermann und Ernst Wandfluh. Ihre dritte Session als neue Grossräte endete mit einer zähen Haushaltsdebatte. Inzwischen finden sich der Landwirt und der pensionierte Unternehmer aber gut zurecht im Ratsbetrieb – und pflegen dabei ihren ...
REPORTAGE Intensive Wochen liegen hinter Kurt Zimmermann und Ernst Wandfluh. Ihre dritte Session als neue Grossräte endete mit einer zähen Haushaltsdebatte. Inzwischen finden sich der Landwirt und der pensionierte Unternehmer aber gut zurecht im Ratsbetrieb – und pflegen dabei ihren eigenen Stil.
BIANCA HÜSING
Die Zeiger der grossen Rathausuhr bewegen sich auf die Neun zu. Nach und nach betreten Grossräte das gotische Gebäude – Männer in Anzügen, Frauen mit Blazern. In sieben Minuten soll die Sitzung beginnen, doch von Ernst Wandfluh und Kurt Zimmermann fehlt noch jede Spur: Die Fahrgemeinschaft aus dem Berner Oberland ist in einen der typisch städtischen Staus geraten. Grossratspräsident Jürg Iseli beginnt schon mit der Begrüssung, als die beiden im Saal Platz nehmen – allerdings nicht, ohne zuvor händeschüttelnd durch die eigenen Reihen gegangen zu sein. Kollegialität ist schliesslich wichtig. Der Frutiger Pensionär und der Kandergrunder Landwirt wissen: Dieser Tag wird lang.
Der bürgerliche Schulterschluss
Nicht nur findet die vorletzte Sitzung des Jahres statt. Auch die Volksabstimmung vom 25. November ist erst zwei Tage her und noch nicht so recht verdaut. 53,6 Prozent der bernischen Stimmbürger haben sich gegen eine Senkung der Unternehmenssteuern ausgesprochen und damit den Grossratsentscheid vom November 2017 negiert. Für die grosse Finanzdebatte und die Budgetplanung 2019 haben sich die Vorzeichen dadurch geändert – immerhin stehen dem Kanton jährlich bis zu 100 Millionen Franken mehr zur Verfügung als geplant.
Die Ratslinke wittert nun ihre Chance, Teile des Sparpakets (EP 2018) wieder rückgängig zu machen. SP und Grüne fordern eine Entlastung von Spitex-Klienten und eine Verbilligung der Krankenkassenprämien. Die EVP will die Sozialhilfe um 25 Millionen Franken aufbessern. An der bürgerlichen Mehrheit im Rat kommen all diese Anliegen jedoch nicht vorbei. Auch Wandfluh und Zimmermann drücken bei jedem einzelnen Antrag zielsicher auf die rote Taste: abgelehnt. In ihrer dritten Session als «neue» Grossräte müssen sie dafür inzwischen nicht einmal mehr hinsehen. «Die Sparmassnahmen waren damals richtig und sind es auch heute», finden die zwei SVP-Politiker – und wissen die Mehrheit auf ihrer Seite. «In Finanzfragen halten die Bürgerlichen zusammen», erklärt Wandfluh. «Da hörts aber auch schon auf.» Bei Sachthemen müsse man sich seine Mehrheiten selbst organisieren.
Zimmermann, der erst vor ein paar Tagen eine Niederlage für seinen Ortsumfahrungs-Vorstoss einstecken musste, nickt. «Wenn es nicht gerade ums Budget oder um Finanzvorlagen geht, tut sich oft ein Stadt-Land-Graben auf.»
Vom Stall in den Ratssaal
Aufmerksam verfolgt Zimmermann das Geschehen am Rednerpult. Der Stuhl zu seiner Linken ist heute des Öfteren leer – mit dem langen Sitzen hat Wandfluh augenscheinlich so seine Mühe. Immer wieder steht er auf, schlängelt sich an seinen Fraktionskollegen vorbei und verlässt den Ratssaal – mal telefoniert er, mal bespricht er sich nebenan mit anderen Grossräten oder Branchenvertretern. Heute ist zum Beispiel Andreas Wyss, Geschäftsführer des Berner Bauern Verbands, gekommen. Thema? «Noch nicht spruchreif.» Wandfluh hat offenbar etwas im Köcher. Er weiss: Um erfolgreich zu politisieren, braucht es die Unterstützung von Verbänden. «Als Einzelkämpfer hat man es schwer», bestätigt Zimmermann. Recht gibt ihnen die allgemeine Unruhe, die zwischendurch einkehrt – immer dann, wenn Politiker einander einen Besuch abstatten oder ebenfalls hinausgehen.
Doch dürfte bei Wandfluhs Bewegungsdrang auch eine andere Komponente mitschwingen: Während für viele Grossräte der Arbeitstag mutmasslich mit dieser Sitzung beginnt, ist er bereits seit Stunden auf den Beinen. Um 4.45 Uhr ist er aufgestanden, um die Tiere im Stall zu versorgen. Anschliessend hat er den grauen Overall gegen einen dunklen Anzug getauscht und den Ratskollegen Zimmermann in Frutigen abgeholt. «Diesmal musste ich ausnahmsweise auf Kurt warten», schmunzelt Wandfluh. Sonst sei es immer umgekehrt. Den Rest des Tages wird sich seine Frau um den Hof kümmern – wie immer, wenn Grossratssession ist.
Zimmermann hat es in dieser Hinsicht leichter. Vor rund einem Jahr hat er seinen Brennstoff-Betrieb verkauft. «Vorher wäre ein Grossratsmandat schlicht undenkbar gewesen», ist er sicher. «In einem kleinen Betrieb braucht es den Geschäftsleiter fast immer.»
Die stillen Schaffer
Auf der Besuchertribüne ist inzwischen eine neue Gruppe eingetroffen, diesmal sind es Schüler. Der Präsident mahnt die Grossräte: «Macht einen guten Eindruck auf die Jugend.» Diese schaut von oben dabei zu, wie die Kantonspolitiker eine Lohnerhöhung für Primarlehrer diskutieren – und ablehnen. Am Pult liefern sich die üblichen Verdächtigen einen Schlagabtausch. Immer wieder ergreifen etwa Natalie Imboden (Grüne) oder Hans Kipfer (EVP) das Wort. Bei der SVP ist Daniel Bichsel heute am häufigsten zu hören. Zimmermann und Wandfluh schaffen lieber im Stillen – während der Novembersession waren beide nur zwei Mal vorne. Wer viel spricht und viele Vorstösse einreicht, ist nicht automatisch der beste Grossrat, finden sie. «Als grosse Fraktion haben wir für jedes Thema Experten erkoren, was ein Vorteil ist. Die Sprecher kleinerer Parteien sind definitiv häufiger am Rednerpult», so Zimmermann.
Er selbst liest sich vor allem in Wirtschaftsgeschäfte vertieft ein – und zwar in einem grossen Aktenordner. Optisch fällt der Frutiger damit etwas aus der Reihe – er ist fast als Einziger analog unterwegs. Wandfluh hat einen Laptop vor sich. «Den habe ich mir vor dieser Session zugelegt», erzählt er. «Damit geht vieles ‹ringer›.» Gerade liest er den jüngsten Agrarbericht und markiert wichtige Stellen darin – die aktuellen Sitzungsunterlagen hat er bereits zu Hause studiert und mit der Fraktion besprochen. «Ich richte meinen Fokus lieber auf das, was vorn passiert», meint dagegen Zimmermann. Auch sonst unterscheiden sich die beiden durchaus – trotz gemeinsamer Partei und Herkunft. Während Zimmermann als ehemaliger Gemeindepräsident daran gewöhnt ist, sich ans Manuskript zu halten, spricht Wandfluh lieber frei: «Mir ist wichtig, dass es von Herzen kommt.» Und als Zimmermann neulich eine Velo-Motion annahm, lehnte Wandfluh sie ab.
Fraktionsübergreifende Harmonie
Einig sind sich beide jedenfalls in einem: «Wir politisieren zwar im Sinne des ganzen Kantons. Aber wenn es um die Region geht, ist unser Motto: Oberland first!», so Zimmermann. Dann spüre man mitunter einen fraktionsübergreifenden Zusammenhalt. Ohnehin sind die Fronten längst nicht so verhärtet, wie es in der Debatte gerade den Anschein macht. «Sobald man am Rednerpult steht, muss man eine andere Rolle einnehmen. Das gehört zum politischen Geschäft», meint Wandfluh. Ausserhalb der Sitzungen verstehe man sich gut, sei mit sämtlichen Grossund Regierungsräten per Du. Gerade die Berglandwirtschaft geniesse auch unter den städtischen Politikern grossen Rückhalt – man müsse ihnen nur erst einmal klarmachen, «wo der Schuh drückt».
11.45 Uhr: Ratspräsident Iseli läutet übers Mikrofon die Mittagspause ein. Wandfluh und Zimmermann ziehen sich ins Restaurant Rathaus zurück und bestellen – eine kleine Portion. «Finanzdebatten sind schwer verdaulich», lacht Zimmermann. Ob er die gute Laune aufrecht erhalten kann, ist zu diesem Zeitpunkt ungewiss. Heute ist schliesslich der längste Sitzungstag der Session – erst um 19 Uhr können die Frutigländer wieder Richtung Heimat aufbrechen. Wandfluh wird dann noch einmal im Stall nach dem Rechten sehen, Zimmermann übt vielleicht noch auf dem Klavier – dieses Hobby hat er sich nach der Pensionierung zugelegt.