PORTRÄT Der Krieg prägte Elisabeth Bählers erste Lebensphase, hielt ihre Familie ständig in Bewegung. Heute ist die buspere Seniorin zwar in Frutigen sesshaft, pendelt aber nach wie vor zwischen mehreren Kontinenten. Was ist ihr Lebenselixier?

JULIAN ZAHND
Theoretisch kann man Elisabeth Bähler an allen Enden der Welt antreffen. Mindestens einmal pro Jahr reist sie für mehrere Wochen oder Monate auf Familienbesuch – abwechselnd nach Australien oder in die USA. Das Fliegen findet sie «wunderbar». «Kürzlich erhielt ich von der Fluggesellschaft sogar einen Packen Schokolade geschenkt!» Solche Präsente kriegen wohl kaum alle. Aber Elisabeth Bähler ist ja auch kein normaler Fluggast: Kürzlich wurde sie 90-jährig.

100 Nächte unter Tage
Ersichtlich wird ihr Alter erst dann, wenn Elisabeth Bähler ihre Lebensgeschichte entspinnt, die zwischen den beiden Kriegen beginnt. Geboren im Gebiet Lothringen, wo die Schweizer Eltern das wirtschaftliche Glück suchen, sind die Gefechte in ihrer ersten Lebensphase Alltag. Erst marschieren die Deutschen im Nordosten Frankreichs ein, später die Amerikaner. Der Krieg treibt die Bauernfamilie Seiler vor sich her, mit Ross und Wagen geht es von Dorf zu Dorf, von Hof zu Hof. «Während andere Familien in den Süden flüchteten, konnten wir immerhin in der Region bleiben. Als Schweizer hatten wir glücklicherweise wenig zu befürchten», so Bähler. Ruhig lebt es sich für die 9-köpfige Familie dennoch nicht. Die Frontlinien verlaufen teilweise in unmittelbarer Nähe, manchmal hört die damals 11-Jährige über sich die Kanonenkugeln sirren. Immer wieder sucht die Lothringer Bevölkerung in dieser Zeit Schutz in den Bunkern, insgesamt über 100 Nächte verbringt die Familie unter Tage. «Ich bin keine ‹Stündelerin›», sagt Bähler heute, «aber damals habe ich jeden Tag gebetet».

Es sind diese Momente, in denen man merkt, dass Elisabeth Bähler solche Geschichten noch längst nicht hinter sich gelassen hat, sie vielmehr so akkurat zu erzählen weiss, als wären sie erst gestern passiert. Nicht immer hält sie beim Erzählen bloss inne, um die Gedanken zu ordnen. Manchmal übermannen sie auch einfach die Gefühle.

Der lange Weg nach Frutigen
Das Nomadendasein entkräftet die Familie Seiler zunehmend. «Eines Tages beschloss mein Vater: ‹Wir gehen in die Schweiz›», erinnert sich Elisabeth Bähler. Mit viel Geduld und Verhandlungsgeschick besorgt er in Strassbourg die nötigen Papiere, am 21. November 1944 um 23 Uhr überschreitet die Familie die Grenze nach Basel. Zunächst kehrt Elisabeth Bähler zurück nach Bönigen, in die Heimat des Vaters. Ein paar Jahre später lernt die damalige Elisabeth Seiler Gottfried Bähler kennen, den sie 1951 heiratet. Es folgen kurze Wohnphasen in La Neuville, Bern und Münsingen, bevor sich das Ehepaar in Frutigen niederlässt. Das ist jetzt 55 Jahre her. Dass Bählers ausgerechnet im Kandertal sesshaft werden, wirkt zunächst erstaunlich, denn auf Anhieb mit dem Dorf angefreundet hat sich Elisabeth nicht: «Die Sonne verschwand immer so früh hinter den Bergen», lautet ihre Begründung. Letztlich aber ist sie es, die bleiben will. Während ihr Mann Pläne zum Auswandern schmiedet, sagt sie nur: «Wenn du gehst, musst du dir eine Neue suchen.» Der Mann bleibt.

Das E-Bike als treuer Begleiter
Mittlerweile wohnt Elisabeth Bähler alleine in der Wisoey, den Alltag bestreitet sie ohne fremde Hilfe. Fährt sie ins Dorf zum Einkaufen oder zum Bahnhof, steigt sie regelmässig aufs bereits 14-jährige E-Bike.

Einsam fühlt sie sich kaum, obwohl sich ihr Freundeskreis zunehmend lichtet. Über dem Lehnsessel im Wohnzimmer hängt eine Decke, darauf abgebildet sind mehrere Bähler-Generationen. Drei Kinder, fünf Gross- und zwei Urgrosskinder zählt die Familie insgesamt – niedergelassen haben sich die meisten in den USA, einige auch in Australien. Mindestens einmal pro Jahr kommen sie nach Frutigen.

Die Verwandtschaft ist Elisabeth Bählers grosser Stolz – wenn auch nicht der einzige. Plötzlich erhebt sie sich vom Esszimmertisch und kramt im gegenüberliegenden Schrank fünf kleine Büchlein hervor: Schweizer Pässe, die einen Grossteil ihres Lebens dokumentieren. Die ersten Papiere stammen aus dem Jahr 1943, darin zu finden ist auch ein Stempel mit dem Reichsadler.

Ist das Reisen dafür verantwortlich, dass Elisabeth Bähler auch im hohen Alter derart busper wirkt? «Ach was», meint sie lakonisch. Das sei halt so ihr Wesen. «Ich versuche einfach stets, ein bisschen lustig zu sein.»

Den Stillstand kennt sie nicht

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