Schreiben über Nachbarn
15.01.2019 Gesellschaft, AnalyseEin Journalismus-Skandal erschüttert die deutschsprachige Medienlandschaft: Viele renommierte Zeitungen und Magazine haben Texte veröffentlicht, deren Inhalt zumindest teilweise erfunden war. Von den Ereignissen betroffen ist auch der Lokaljounalismus – wenn auch unter anderem ...
Ein Journalismus-Skandal erschüttert die deutschsprachige Medienlandschaft: Viele renommierte Zeitungen und Magazine haben Texte veröffentlicht, deren Inhalt zumindest teilweise erfunden war. Von den Ereignissen betroffen ist auch der Lokaljounalismus – wenn auch unter anderem Vorzeichen.
Vor ein paar Jahren gab es im «Frutigländer» eine Serie namens «Wasser-Fälle», die sich mit den vielfältigen Einflüssen des nassen Elements beschäftigte. In einer Folge schrieb ich über Orts- und Flurnamen, in denen das Wasser seine Spuren hinterlassen hat, etwa in den Silben «Ried» oder «Oey». Ich nannte einige Beispiele.
Als der Artikel erschienen war, läutete abends bei mir zu Hause das Telefon. Die Anruferin bedankte sich für den Artikel – und zählte mir dann auf, welche wasserreichen Ortsnamen ich in meinem Bericht noch vergessen hätte. Es waren viele.
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Die Anekdote verdeutlicht sehr schön den Unterschied zwischen Lokaljournalismus und überregionaler oder gar internationaler Berichterstattung. Wenn im «Frutigländer» zu lesen wäre, die Blüemlisalp sei 4200 Meter hoch, dürfte die Redaktion am nächsten Tag ein paar Anrufe und / oder Leserbriefe entgegennehmen. Und das völlig zu recht, denn die Höhenangabe wäre schlicht falsch, und nahezu jedem Leser würde das auffallen.
Vieles, was im Lokaljournalismus geschrieben wird, lässt sich vor Ort überprüfen – wenn nicht von allen, dann doch zumindest von einigen Lesern oder von Behörden. Ganz anders in der überregionalen Presse. Erscheint in der NZZ ein Artikel über verfolgte Christen im Irak, bleibt mir nur die Hoffnung, dass die Informationen im Text gut recherchiert sind und der Wahrheit entsprechen. Überprüfen kann ich sie nur mit Mühe – und oftmals überhaupt nicht. Das geht übrigens den Redaktionen der genannten Blätter nicht anders: Gerade bei Artikeln über Vorgänge im Ausland ist es nicht möglich, alle genannten Fakten zu überprüfen.
Wenn ein Reporter also Menschen beschreibt, die er im Irak getroffen hat, ihre beschwerliche Flucht nach Jordanien schildert und ihre Gespräche wiedergibt, so ist das im besten Fall eine hervorragende journalistische Arbeit, zustande gekommen unter grossem persönlichen Einsatz. Im schlechtesten Fall ist es einfach eine Ansammlung von Lügen.
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Gerade ist der «Spiegel», das Flaggschiff des deutschen Journalismus, von einem solchen Lügenskandal betroffen. Wie man inzwischen weiss, hat Spiegel-Reporter Claas Relotius in mindestens 14 Fällen grosse, aufsehenerregende Reportagen gefälscht. Mal hat er nur einzelne Passagen oder Zitate «dazugeschummelt», mal den ganzen Artikel mehr oder weniger erfunden. Auch ausländische Medien sind von Relotius’ Arbeiten betroffen, in der Schweiz etwa die NZZ am Sonntag oder die Weltwoche. Das Pikante an dem Fall: Claas Relotius war in der Branche nicht irgendwer. In seiner kurzen Karriere hat der 33-Jährige bereits mehrere bedeutende Journalismus-Preise eingeheimst, seine Arbeiten galten als Musterbeispiel für gelungene Reportagen. Vielleicht auch deshalb, weil oft genau das drinstand, was dem medialen Zeitgeist entspricht. Der Inhalt passte – also wurde nicht so genau hingesehen.
Nun ist Aufräumen angesagt: Die Preise wurden zurückgegeben; rückwirkend versuchen «Spiegel» und Co., den Wahrheitsgehalt der verdächtigen Artikel zu überprüfen. Der Imageschaden ist enorm.
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Eine solche Affäre ist im Lokaljournalismus schwer vorstellbar. Sicher: Auch die kleinen, regional verankerten Zeitungen könnten theoretisch Personen erfinden, über Begegnungen schreiben, die nie stattfanden, Interviews ausschmücken. Doch die Chance, mit solchen Fake-Geschichten jahrelang die Zeitung zu füllen, ohne dass es auffliegt, ist gleich Null. Im Lokalen weiss man nicht nur, wie hoch die Berggipfel sind. Die Leute kennen sich auch untereinander. Sie wissen, wie man redet und worüber. Es wäre vermessen, ihnen in dieser Konstellation etwas vormachen zu wollen. Der «Spiegel» leistet sich eine ganze Abteilung, welche die Fakten eines Artikels überprüft. Oder zumindest überprüfen sollte. Auf der lokalen Ebene übernimmt die Leserschaft diese Rolle. Diese Nähe ist einerseits die Stärke kleiner Zeitungen. Sie kann, wenn man nicht aufpasst, aber auch zur Schwäche werden.
Der Journalist, der über Trump schreibt, ist in einer komfortablen Situation. Er kann frei von der Leber weg in die Tasten greifen, denn höchstwahrscheinlich wird er dem US-amerikanischen Präsidenten nie begegnen. Bei den Autoren einer Lokalzeitung dagegen, ob freie oder «hauptamtliche», besteht diese Möglichkeit durchaus. Und natürlich beeinflusst das die Art und Weise der Berichterstattung. Kurz gesagt: Wer über Nachbarn schreibt, schreibt anders; meistens verständnisvoller, positiver, konstruktiver. Wer die Menschen in «seiner» Region kennt, wer sieht, wie sie sich Mühe geben, beruflich oder bei ihrem Hobby, der wird im Zweifel milder urteilen als jemand, der irgendwo weit entfernt seinen Schreibtisch stehen hat.
Das muss nicht verkehrt sein. Gerade in Gegenden, die gemeinhin als Randregionen betitelt werden, kann ein wenig Lokalpatriotismus nicht schaden. Und der darf sich auch in der Zeitung niederschlagen. Gefährlich wird es dann, wenn die Milde das Urteil trübt. Denn auch auf lokaler Ebene läuft ja nicht immer alles rund, und nicht zu allem muss man gleicher Meinung sein. Es ist die Aufgabe der Presse, solche Missstände anzusprechen und Debatten anzustossen. Tut sie es nicht, wegen zu viel Nähe oder aus falsch verstandener Rücksichtnahme, geht die Welt nicht unter. Die Gefahr besteht eher darin, dass die Zeitung langfristig an Glaubwürdigkeit verliert, dass sie belanglos wird.
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Claas Relotius konnte betrügen, weil seine Recherchen weit weg stattfanden. Und seitens der Redaktion wurde es ihm leicht gemacht, weil man sich persönlich (und im Weltbild?) nahestand. Eine Lokalzeitung recherchiert vor der eigenen Haustür. Dass dabei absichtlich Fake-News produziert werden, ist so gut wie ausgeschlossen. Für Lokaljournalisten besteht die Gefahr viel eher darin, mit einer Schere im Kopf zu schreiben, sich bei bestimmten Themen quasi selbst zu zensieren, um es sich mit den Dorfkönigen nicht zu verscherzen.
Zwischen den frisierten Reportagen des «Spiegel» und der Arbeit kleiner Lokalblätter gibt es insofern doch eine Verbindungslinie: In beiden Fällen geht es letztlich um das Verhältnis von Nähe und Distanz. Dieses auszutarieren, ohne in die eine oder andere Richtung zu kippen, bleibt eine Herausforderung der Medien – ganz gleich, von wo sie berichten.