«Erst wollten die Leute nicht weg»
01.02.2019 Frutigen, Kandergrund, Blausee, Mitholz, AdelbodenVerantwortlich für Strassensperrungen und Evakuierungen war im Februar vor 20 Jahren der Regierungsstatthalter Christian Rubin. Er spricht über den öffentlichen Druck auf die Behörden in solchen Situationen und verrät, welche Sorgen er sich heute macht.
HANSD RUDOLF ...
Verantwortlich für Strassensperrungen und Evakuierungen war im Februar vor 20 Jahren der Regierungsstatthalter Christian Rubin. Er spricht über den öffentlichen Druck auf die Behörden in solchen Situationen und verrät, welche Sorgen er sich heute macht.
HANSD RUDOLF SCHNEIDER
«Im Laufe der Zeit ändern die Prioritäten und die Mentalität. Heute hätte bei den Betroffenen wohl die mobile Kommunikation Priorität, noch vor den Lebensmittelvorräten. Das war vor 20 Jahren definitiv anders.» Christian Rubin war im Lawinenwinter 1999 als Regierungsstatthalter mitten im Zentrum des Ereignisses und analysiert heute: «Wir sind uns gewohnt, dass Probleme rasch gelöst werden können, Kommunikations- und Verkehrsverbindungen schnell wieder nutzbar sind.» Als Beispiel nennt er das Loch in der Strasse nach Adelboden vor einem Jahr, das innert weniger Tage überbrückt werden konnte. «Wenn aber grossflächige Ereignisse einträten, wären die Ressourcen schneller erschöpft – die Feuerwehren, der Zivilschutz und die Armee wurden personell und materiell zurückgefahren. Tendenziell würde die Herstellung des Normalzustands länger dauern als damals.» Und: Ein Naturereignis passierte einfach, da habe man keine Zeit, fehlende Vorbereitungen aufzuholen.
Zuerst Widerstand, dann aber …
Rubin war am 9. Februar 1999 mit dem Helikopter auf einem Erkundungsflug, als ihn die Meldung der ersten Lawine erreichte. «Wir flogen sofort Richtung Engstligtal und konnten zuschauen, wie sich die Schneemassen über die Kantonsstrasse wälzten. Es war eindrücklich.» Damit begann eine intensive und verantwortungsvolle Zeit für den Regierungsstatthalter. «Wir schotteten die Lawinenkommissionen völlig ab. Die Fachleute konnten in Ruhe arbeiten, ihre Abklärungen machen und dann legten sie uns ihre Empfehlungen vor. Und ich stand dann vorne hin und übernahm die Verantwortung dafür. Die Unsicherheit, ob man richtig entschieden hatte, war immer da.»
Es sei nicht einfach gewesen, den Leuten die Gefahren klar zu machen, wenn Strassensperrungen oder Evakuierungen angeordnet worden seien. Einige hätten sich geweigert, ihre Häuser zu verlassen. Diese mussten unterschreiben, dass sie auf eigenes Risiko zurückblieben. «Erinnern kann ich mich, dass auf der Griesalp die Leute nicht weg wollten – und kurz darauf dennoch um Hilfe bei der Flucht baten. Oftmals waren wir fast froh, wenn eine kleine Lawine ohne grosse Schäden niederging und unsere Einschätzungen untermauerte.»
Abwurf aus dem Heli
Rund 80 Gebäude erlitten im damaligen Amtsbezirk Frutigen kleinere oder grössere Schäden. Das Risiko war wirklich hoch, insbesondere nach dem 22. Februar waren die Lawinenverbauungen mehr als voll mit Schnee. Und die Lage in den abgeschnittenen Häusern wurde langsam kritisch. Beeindruckend waren für den Statthalter die Helipiloten, die gerade bei schlechten Bedingungen zeigen konnten, dass sie ihre Maschinen im Griff hatten. «Ich glaube, die genossen das. Für die Spissen-Bewohner wurden viele Hilfsflüge gemacht, zum Beispiel wurden Grundnahrungsmittel oder Medikamente gebracht oder sogar aus der Luft abgeworfen. Auf Unverständnis stiessen bei mir aber Spezialwünsche. Jemand wollte sein Brot nur von einem bestimmten Beck haben. Das war definitiv der falsche Zeitpunkt für so was …», sagt Christian Rubin heute schmunzelnd.
Der Druck von allen Seiten
Die Behörden standen unter Druck, von der Bevölkerung, von den Tourismusorten, von den Unternehmen her – es war eine Gratwanderung. Heute wäre der Druck noch stärker, ist Rubin überzeugt, da sekundenschnell Bilder und Informationen via Social Media und Internet verbreitet würden. Da sei ein klares Informationskonzept von Vorteil. Gewehrt habe er sich, als der Kanton 1999 die Führung übernehmen wollte. «Solche Situationen können nur vor Ort gemeistert werden. Wir haben beispielsweise die Profis der Helifirmen die ganzen Flüge koordinieren lassen, das mussten wir nicht auch noch selber übernehmen. Die wussten besser, wann wo welche Helis zur Verfügung standen.» Der Führungsstab überliess es zudem dem Grossverteiler Coop, welche Lebensmittel dieser im ersten Konvoi nach Adelboden brachte. «Die wussten schon, was gebraucht wurde und verkauft werden konnte.»
Die Sorgen von heute
Es zeigte sich, dass unsere Vorfahren überlegt gehandelt hatten, als sie grossflächig Schutzwälder und Verbauungen realisierten. Heute macht Christian Rubin vor allem der Schutzwald Sorgen, der sei früher intensiver und nachhaltiger gepflegt worden. «Es muss ja nicht etwas passieren, bis man sich dieser Versicherung wieder bewusster wird.» Konkrete Anpassungen gab es nach der Analyse des Lawinenwinters vor allem bei den Zonen. Etliche rote – also gefährliche Zonen mit Einschränkungen für das Bauen – wurden vergrössert, namentlich im Kiental. Und die Zusammenarbeit der Lawinenspezialisten wurde auf die Region ausgedehnt. Organisatorisch seien die Behörden heute gut gewappnet. Doch jeder müsse eben selber in Krisensituationen kreativ werden. Was passiert beispielsweise mit der Milch, die nicht von den eingeschneiten Höfen abtransportiert werden kann? Christian Rubin, selber Meisterlandwirt: «Man kann ja notfalls auch mal im Winter käsen ...»
«Mehr Erfahrung als andere»
Was wäre heute bei einem Grossereignis anders als 1999 – die Führungsstrukturen? Die Einsatzmittel? Oder vor allem das Handy?
«Die Medienarbeit wäre sicherlich viel intensiver, als sie vor 20 Jahren gewesen ist. Besonders die Jungen informieren sich rasch in den sozialen Medien. Sie sind ständig ‹up to date› und teilen sich auch traurige Nachrichten via WhatsApp und anderen sozialen Medien unverzüglich mit», sagt Ariane Nottaris. Die heutige Regierungsstatthalterin ist im Alltag und im Krisenfall für das Frutigland und das Niedersimmental zuständig. «In den letzten Jahren wurden die Ereignisse schneller in den sozialen Medien kommuniziert, als dass wir unsere erste Medienmitteilung veröffentlichen konnten …»
Sie stelle zudem fest, dass viele Leute in ausserordentlichen Lagen hohe Erwartungen an die Behörden hätten und diese all ihre Probleme lösen sollten. Hingegen hat sich die Verantwortung der Gemeinden und der Regierungsstatthalterin und somit der Druck nicht verändert. Sie sind nach wie vor für die Anordnung von Strassenschliessungen, Evakuationen etc. zuständig.
Nach Tälern aufgeteilt
Zum Einsatz käme heute das Verwaltungskreisführungsorgan (VKFO), das für alle Gemeinden im Frutigland und Niedersimmental zuständig ist. «Intern haben wir uns deshalb gedanklich so aufgeteilt, dass wir bei einem flächendeckenden ausserordentlichen Ereignis in zwei Gruppen aufteilen könnten», zeigt Nottaris die Überlegungen auf. Nebst einem Chef umfasst das Gremium eine Stabchefin, einen Chef Lage, einen Naturgefahren- sowie einen Kommunikationsverantwortlichen. Polizei, Zivilschutz sowie Feuerwehr werden integriert und externe Fachleute können beigezogen werden. Das VKFO verfügt nicht über eigenes Material, es kann dieses aber bei Bedarf beim Kanton beantragen und zudem den Zivilschutz aufbieten. Auch ein Antrag auf Armeeunterstützung würde über das VKFO und die Statthalterin gestellt.
Fast jährlich im Einsatz
Die wichtigste Ressource des Führungsorgans seien die Mitglieder mit ihrer «schnellen Auffassungsgabe sowie ihrem vernetzten, analytischen Denken und ihrem guten lokalen Netzwerk», sagt Ariane Nottaris. Einige Gemeinden sind heute zu regionalen Führungsorganen zusammengeschlossen, was die Zahl der Ansprechpartner etwas reduziert. Aufgrund der topografischen Lage und der daraus resultierenden Naturereignisse steht das VKFO-Frutigen-Niedersimmental fast jährlich im Einsatz. «Es verfügt somit über viel mehr Erfahrung als alle anderen VKFO. Zudem ist insbesondere der Chef VKFO Beat Mosimann schon viele Jahre dabei. Ich bin überzeugt, über ein sehr kompetentes VKFO zu verfügen, welches mich in ausserordentlichen Lagen bestens unterstützt.» HSF
Schutz von Strasse und Lötschbergstrecke
Die Lötschbergstrecke via Kandersteg ist sowohl im Norden als auch im Süden des Tunnels exponiert. Mediensprecher Stefan Dauner betont, wie wichtig für die Automobilisten und somit den Autoverlad der Bau des Mitholz-Strassentunnels war. «Damit ist die Nordzufahrt für den Autoverlad heute bestens geschützt.» Und sonst gibt es ja noch den Neat-Tunnel. «Der Lötschberg-Basistunnel wurde für den Güter- und Personenverkehr gebaut und ist heute voll ausgelastet. Es steht daher heute und auch nach einem künftigen Teilausbau nicht genügend Kapazität für einen Autoverlad zur Verfügung. Zudem investieren wir gerade 105 Millionen Franken in eine zuverlässige Infrastruktur im Scheiteltunnel. Für die BLS ist deshalb ein Autoverlad durch den Basistunnel keine Option», erklärt Dauner.
Für den Schutz ihrer Bergstrecke beträgt der Aufwand der BLS für die Erhaltung der forstlichen Schutzbauten (d.h. nicht nur Lawinenverbauungen) pro Jahr rund 100 000 Franken auf der Nordseite und rund 150 000 auf der Südseite. Nach dem Sturm «Lothar» Ende 1999 habe die BLS an der Nordrampe vor allem viel Aufforstung, also natürlichen Hangschutz, betrieben. In den letzten zehn Jahren wurden zusätzlich die verbleibenden Lücken mit Steinschlagnetzen ausgerüstet. «Diese sind durch elektrische Drähte überwacht. Bei Steinschlag wird in unserer Betriebszentrale in Spiez sofort ein Signal ausgelöst, damit die Lokführer im gegebenen Sektor nur noch auf Sicht fahren. Vor dem ersten Tunnel kurz nach Kandergrund wurde zusätzlich ein Schutzdamm gegen Steinschlag gebaut», zählt der Mediensprecher auf. Auch auf der Südrampe seien viele neue Schutznetze angebracht worden. In den nächsten fünf Jahren wendet die BLS im Süden zusätzlich 2 Millionen Franken auf, um weitere 700 Meter Netze anzubringen, Felsen zu sichern, aber auch um erstmals verschiedene Messstellen zwischen Lalden und Brig zu installieren. «Damit wollen wir mehr über Fels- und Steinbewegungen erfahren, um den Schutz in Zukunft optimieren zu können.» HSF