Das Tal auf dem Mehrweg
12.04.2019 RegionGASTRONOMIE Seit Januar 2019 ist Mehrweg- oder kompostierbares Einweggeschirr an Grossevents im Kanton Bern Pflicht. Betroffen sind auch Veranstalter im Tal. Manche von ihnen tun sich mit den neuen Vorschriften schwer – zu Recht?
JULIAN ZAHND
Plastikteller und ...
GASTRONOMIE Seit Januar 2019 ist Mehrweg- oder kompostierbares Einweggeschirr an Grossevents im Kanton Bern Pflicht. Betroffen sind auch Veranstalter im Tal. Manche von ihnen tun sich mit den neuen Vorschriften schwer – zu Recht?
JULIAN ZAHND
Plastikteller und Pappbecher an Grossveranstaltungen – das war einmal. Seit Anfang Jahr gilt die neue kantonale Gastgewerbeverordnung, die ein Obligatorium für Mehrweggeschirr bei bewilligungspflichtigen Anlässen beinhaltet. Der Artikel 17a ist jedoch nicht strikt formuliert. Er sieht dann Ausnahmen vor, «wenn Mehrweggeschirr am Ort der Veranstaltung mit verhältnismässigem Aufwand nicht bereitgestellt werden kann oder eine hinsichtlich Umweltbelastung gleichwertige Lösung vorliegt».
Regierungsstatthalter gewähren weitere Spielräume
Die Berner Regierungsstatthalter, die für die Bewilligung von Anlässen verantwortlich sind, trafen sich Ende 2018, um die Vorgaben zu konkretisieren – und nutzten dabei einige Spielräume. So wurden etwa kleine Anlässe vom Obligatorium befreit. Die Mehrwegpflicht besteht nur für Anlässe mit über 500 konsumierenden Gästen pro Tag. Zudem bieten die Regierungsstatthalter eine Alternative zum Mehrweggeschirr: Sofern eine fachgerechte Entsorgung nachgewiesen werden kann, ist auch kompostierbares Einweggeschirr erlaubt. Besteck schliesslich wurde von der Regelung ausgeklammert.
Wie weit der Spielraum in Bezug auf die in der Verordnung angetönte Verhältnismässigkeit reicht, kann Statthalterin Ariane Nottaris nicht abschliessend sagen. Die Bewilligungsgesuche würden erst langsam eingehen. Nottaris hält aber fest: «Es wird sicherlich eine sehr gute Begründung für eine Ausnahme brauchen.» Streng ist die Regierungsstatthalterin hingegen bei der Verwendung von überschüssigen Einwegreserven. Diese dürften an Grossanlässen nicht aufgebraucht werden.
Weltcup mit zusätzlicher Vorlaufzeit
Beim Adelbodner Weltcup wurde dieses Jahr noch herkömmliches Einweggeschirr verwendet. Die Bewilligung sei im letzten Jahr und damit noch unter altem Recht erteilt worden, begründet Nottaris. Da der Regierungsrat die neue Regelung erst im September 2018 kommuniziert habe, sei die Vorlaufzeit ohnehin sehr knapp gewesen, fügt Weltcup-Geschäftsführer Christian Haueter an.
Für die Austragung 2020 würden nun aber Abklärungen laufen. Wie das neue Geschirrkonzept aussehen wird, kann Haueter derweil noch nicht sagen. Man sei nun daran, eine Auslegeordnung zu machen, bevor konkrete Massnahmen getroffen werden könnten. Mit Sicherheit werde man aber auf Mehrweg- und nicht auf kompostierbares Einweggeschirr setzen. Klar ist zudem, was mit den Restposten an Einweggeschirr geschieht: Es wird bei der Verpflegung von Helfern und Zivilschützern im nicht öffentlichen Staff House verwendet. Bereits jetzt ist für Haueter klar, dass die neue Regelung einen logistischen und administrativen Mehraufwand bedeute, aber dennoch sinnvoll sei. «Wir wollen beim Thema Nachhaltigkeit einen Beitrag leisten.»
«Nicht zu Ende gedacht»
Die neue Regelung betrifft im Tal mehrere Sport- und Musikevents. Dass Nachhaltigkeit «eine gute Sache» sei, darauf können sich die meisten Veranstalter einigen. Mit dem neuen Obligatorium bekunden einige von ihnen aber dennoch Mühe. Das Reglement sei doch ein Tropfen auf den heissen Stein und unverhältnismässig, sagt etwa Hanspeter Ryter. Er ist Organisator des Country&Western Festivals Frutigen, das im August stattfindet. Ein Geschirr- und Becherkonzept sei noch nicht erarbeitet worden. Überhaupt scheint Ryter den Effekt der Massnahme anzuzweifeln: «Viel wirkungsvoller wäre es, wenn Eltern bei der Erziehung ansetzen und ihren Nachwuchs dazu bringen würden, den Abfall nicht einfach achtlos wegzuwerfen.»
Bereits Erfahrungen mit der neuen Gesetzeslage gemacht hat René Maeder vom Waldhotel Doldenhorn in Kandersteg. Während des Schlittenhunderennens 2019 war er für das Catering verantwortlich, dabei verwendete er Einweggeschirr aus kompostierbarem Material. Was er übrigens bereits seit zehn Jahren tue – bloss habe man das Geschirr früher im Unterschied zu heute im normalen Kehricht entsorgen dürfen. Maeder stört sich einerseits an den verstärkten Kontrollen. «Da spricht man ständig von Eigenverantwortung in der Gastronomie, nun werden wir überwacht wie Schulbuben.» Im geänderten Reglement sieht Maeder zudem Schwachstellen. Zwar würden Geschirr sowie Becher und Gläser unter das Obligatorium fallen, Besteck jedoch nicht. Während der Entsorgung führe das bei den Leuten zu Verwirrung: «Man muss am Anlass eine Aufsichtsperson hinstellen, damit alles sauber getrennt wird.» Letztlich sei die neue Regelung eine gute Sache, jedoch «schlicht und einfach nicht zu Ende gedacht», was auch die Entsorgungsfrage zeige. Lange sei unklar gewesen, wohin man das kompostierbare Geschirr überhaupt bringen könne. Mittlerweile wisse man, dass es im seeländischen Gümmenen eine Möglichkeit gebe – eine viel zu weite Distanz.
Gegen das neue Reglement aussprechen will sich Maeder zwar nicht. Allerdings erwartet er von den Verantwortlichen mehr Hilfestellung. Zudem ist er der Ansicht: «Das Obligatorium macht vor allem für Events in den Dimensionen eines Weltcups oder Gurtenfestivals Sinn. Kleinere Anlässe könnte man aber durchaus ausklammern.»
Die Frage der Ökobilanz
Gemäss Christian Haueter fallen an einem Weltcup-Wochenende rund 60 Tonnen Müll an – wobei bei dieser Angabe auch Fanartikel und Bauabfälle mit eingerechnet sind. Die Menge lasse sich mit dem neuen Reglement aber auf jeden Fall massiv verringern. Bei einem Anlass in der Grössenordnung eines Schlittenhunderennens seien hingegen lediglich zehn Kehrichtsäcke gefüllt worden, sagt René Maeder. Als umso unverhältnismässiger erachtet er den weiten Transport ins Seeland.
Tatsächlich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach dem ökologischen Nutzen der Mehrwegpflicht. Nebst zusätzlichen Transportkilometern sind nämlich ebenfalls die aufwendigere Produktion sowie die Reinigung zu berücksichtigen. Das Hauptziel der Massnahme sei klar die Abfallverminderung, sagt dazu Stefan Kolb vom kantonalen beco Berner Wirtschaft. Sowohl Mehrweg- wie auch kompostierbares Geschirr seien gute Möglichkeiten, dieses Ziel zu erreichen. Bezüglich Gesamt-Ökobilanz habe man hingegen keine Zusatzabklärungen getroffen.
Studien zum Thema liegen indes vor. Gestützt auf mehrere Untersuchungen empfiehlt das Bundesamt für Umwelt (BAFU) etwa den Einsatz von Mehrweggeschirr, da dieses grundsätzlich ökologischer sei als Einweggeschirr. Am meisten ins Gewicht fällt dabei die Herstellung. Diese sei bei Mehrwegbechern zwar energieintensiver, der Effekt werde durch den mehrmaligen Gebrauch jedoch deutlich kompensiert. Ernst Brunner, Geschäftsführer von der Mehrweggeschirr-Vermietung Swiss Cup Service in Interlaken, präzisiert: «Unsere Kunststoffprodukte werden durchschnittlich rund 150-mal verwendet. Bereits ab 50 Einsätzen liegt die Zahl der Umweltbelastungspunkte unter jener von Glas und zirka viermal unter jener von Einweggeschirr.» Kaum geschmälert wird die Bilanz übrigens durch Geschirr, das nicht zurückgebracht wird. Gemäss Untersuchungen dient dieses oft dem Heimgebrauch und ersetzt damit ein anderes Gefäss.
Oft genannt werden die weiteren Transportwege, die das Mehrweggeschirr zwecks Anschaffung und Reinigung zurücklegt. Die Mehrdistanz ist zwar der weniger bedeutende Posten als die Herstellung, dennoch nennt das BAFU bei seinen Empfehlungen Richtwerte: Maximal 50 Kilometer bei 1000 Bechern, 200 Kilometer bei 5000 und 400 Kilometer bei 10 000 Bechern (bei Tellern liegen die Richtwerte tiefer). Die nächste Geschirrvermietung liegt in Interlaken – von Kandersteg aus ist das eine Distanz von 45 Kilometern. Hinzu kommt, dass das Geschirr in Freiburg gereinigt wird (plus 180 Kilometer). Ernst Brunner hält hierzu fest, dass man einerseits bestrebt sei, die Transporte gut auszulasten, sodass man in aller Regel unterhalb der empfohlenen Maximaldistanzen liege. Zudem seien neue Reinigungsund Abgabestellen in Planung, was die Distanzen verkürzen dürfte.
In Bezug auf die Ökobilanz deutlich schlechter schneidet hingegen kompostierbares Einweggeschirr ab. Da die aufwendige Herstellung viel mehr ins Gewicht fällt als die vorteilhafte Entsorgung, ist dieses Geschirr für die Umwelt ähnlich belastend wie jene herkömmlichen Einweggefässe, die bei den Tests am besten abschneiden.
Und die Kosten?
Bleibt die Frage, wie tief ein Veranstalter ins Portemonnaie greifen muss, wenn er einen nachhaltigen Event organisieren will. Ernst Brunner schätzt, dass qualitativ hochstehendes Einweggeschirr ungefähr gleich teuer ist wie Mehrweggeschirr – sofern die Zusatzaufwände durch Freiwilligenarbeit gedeckt sind. Als Richtwert für einen einfachen Anlass mit 500 Besuchern hält er Ausgaben von 500 Franken für Trink- und Essgefässe ohne Besteck für realistisch – Transport und Reinigung inbegriffen.
Umfassende Informationen zum Thema finden Sie in unserer Web-Link-Übersicht unter www.frutiglaender.ch/web-links.html
KOMMENTAR
Zu Ende denken müssen wir alle
Ja, die neue Regelung betreffend Mehrweggeschirr hat Schwächen. Stossend ist etwa, dass kompostierbares Einweggeschirr trotz mangelhafter Ökobilanz weiterhin erlaubt ist – zumal die nächste Abgabestelle etwa von Kandersteg aus gerechnet 80 Kilometer weit entfernt ist. Auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar ist zudem, dass Besteck vom Obligatorium befreit wurde, was bei der Entsorgung zu Komplikationen führen kann.
Nein, die neue Regelung ist deswegen nicht schlecht – auch wenn sie bloss minimal zu einem besseren Klima beiträgt. Man stelle sich vor, der Bundesrat würde auf einen Schlag ein Plastikverbot verhängen. Wer das Schweizer System kennt, der weiss, dass ein solcher Beschluss kaum umsetzbar wäre. In Realität befinden wir uns erst in der Startphase: Grossverteiler wie Migros oder Coop haben vor nicht allzu langer Zeit eine minimale Gebühr auf Plastiksäcke eingeführt oder sind jetzt daran, Bioprodukte punktuell von Klarsichtfolie zu befreien.
Die Politik der kleinen Schritte ist somit jene, die langfristig den grössten Erfolg verspricht. Und falls die einzelnen Massnahmen «nicht zu Ende gedacht» sind, so sind alle eingeladen, zu Ende zu denken. Konkret: Veranstalter sollten unter den gegebenen Umständen auf kompostierbares Geschirr verzichten. Statt Wienerli mit Kartoffelsalat könnten sie etwa Hotdogs anbieten, um Geschirr ganz zu vermeiden. Die Gemeinden, die im Tal gemäss eigener Auskunft noch kaum aktiv geworden sind, könnten sich zudem Gedanken machen, ob eine preiswerte Mehrweggeschirr-Vermietung im Sinne eines Service public effektiv wäre, um Transportdistanzen abzubauen. Und schliesslich sind wir auch als Individuen gefragt: Ein eigener Mehrwegbecher etwa lässt sich vielerorts problemlos mitnehmen.
JULIAN ZAHND
J.ZAHND@FRUTIGLAENDER.CH