Zwei Koffer für jeden Roman
12.06.2019 Kandersteg, GesellschaftBei seiner Lesung am Donnerstagabend erzählte Catalin Dorian Florescu aus seinem Schriftstellerleben. Die Zuschauer erfuhren, wie der bekannte Buchautor einst aus Rumänien in den Westen floh und den Weg zur Literatur fand.
LINUS CADOTSCH
In einer dunklen Nacht im ...
Bei seiner Lesung am Donnerstagabend erzählte Catalin Dorian Florescu aus seinem Schriftstellerleben. Die Zuschauer erfuhren, wie der bekannte Buchautor einst aus Rumänien in den Westen floh und den Weg zur Literatur fand.
LINUS CADOTSCH
In einer dunklen Nacht im Jahr 1982 hatte Florescus Vater das Auto mit dem Nötigsten vollgepackt. Die riskante Flucht über die Grenze gelang der Familie, doch seine geliebte Büchersammlung musste der damals 15-jährige Catalin dabei für immer zurücklassen. Bereits als Kind und später als Jugendlicher hatte er Bücher nur so verschlungen. Diese Belesenheit nahm er mit in die Schweiz, und sie war der Nährboden für seine späteren schriftstellerischen Erfolge. Sein stark autobiografisch geprägter Erstling erschien 2001 unter dem Titel «Wunderzeit». 2011 gewann Florescu den Schweizer Buchpreis mit seinem Roman «Jacob beschliesst zu lieben». Im Kirchgemeindesaal Kandersteg hat Florescu aus den Werken «Zaira» und «Der Mann, der das Glück bringt» gelesen.
Vorbestimmter Erfolg?
Mit der Schilderung der gewagten Flucht zog der Autor die knapp 40 erschienenen Gäste im Nu in seinen Bann. Florescus Erinnerungen an die frühere Diktatur in Rumänien lösten im Publikum durchaus Betroffenheit aus. Mit Witz und Schalk in seinen Erzählungen waren ihm die Lacher gleichzeitig so gut wie sicher. Es sei die osteuropäische Art, mit den politischen Missständen klarzukommen. «Es ist besser, über Probleme zu lachen als zu weinen», meinte der Schriftsteller. Die Migration nimmt zwar in vielen Werken des gebürtigen Rumänen eine wichtige Rolle ein. Charakteristisch ist aber auch der Protagonist, der stets gefährdet, jedoch auch widerstandsfähig ist und somit keine Opferrolle einnimmt. Diese Konstellation zieht sich wie ein roter Faden durch alle Geschichten Florescus.
Nach der Einführung über sein Leben las der 52-jährige Erfolgsautor aus seinem Roman «Zaira» vor, der folgendermassen beginnt: «Die erste schwindelerregende Reise meines Lebens war jene durch Mutter.» Es ist ein Satz, der bereits etliche Elemente Florescus Erzählungen enthält: Schmerz und Freude, Fleisch und Blut, das Familienleben und weite Reisen – und natürlich einen spitzen Humor.
Ein poetisches Verhältnis zur Welt
Woher nimmt der Schriftsteller überhaupt seine Ideen und Informationen für all seine Werke, die oft weit in der Vergangenheit spielen? «Um gut schreiben zu können, braucht man ein poetisches Verhältnis zur Welt», meint Florescu. «Dazu spüre ich eine innere Stimme, der ich Raum und Resonanz geben möchte», führt er aus. Die Ideen zu den Geschichten wachsen bei Begegnungen mit besonderen, inspirierenden Menschen. Danach folge eine oft jahrelange Recherche in alten Dokumenten, Fotobüchern und Museen. «Für jeden Roman sammle ich zwei Koffer an Materialien», sagte Florescu.
Mindestens so wichtig sei aber die eigene Auseinandersetzung mit den Begebenheiten vor Ort, bei denen er wie ein Schwamm so viel aufsauge wie nur möglich. Für seinen neuen Roman, an dem der studierte Psychologe derzeit schreibt, wohnte er lange Zeit in Bukarest, durchkreuzte einzelne Quartiere und Strassen, beobachtete Menschen und traf sie vor Ort. Für dieses Werk sprach Florescu beispielsweise mit ehemaligen politischen Gefangenen, die sich zu Vereinen zusammengeschlossen haben, um das Grauen der Vergangenheit besser zu verarbeiten.
Ein 10-Jahr-Jubiläum
Die Bücherecke Kandersteg, die den Anlass organisierte, lud Florescu nicht zufällig ein. «Vor zehn Jahren haben wir einen kleinen Lesekreis gegründet, und das erste Buch, welches wir damals diskutierten, war ‹Der blinde Masseur› von Florescu. Letzte Woche und damit zehn Jahre später besprachen wir ‹Jacob beschliesst zu lieben›», erzählt die Buchhändlerin Cornelia Cadotsch.
Florescu ist ein grossartiger Erzähler. Mit seinem Herzblut und seiner Hingabe hat er seine Zuhörer fasziniert und mitgerissen. Dafür hat ihn das Publikum nach der Lesung mit einem warmen Applaus gewürdigt.