Die Geschichte eines Schülerstreiks
20.09.2019 Frutigen, Bildung|Schule, PolitikIm März sorgte eine Schulangelegenheit schweizweit für Furore: Schüler der Oberstufenschule (OSS) seien während der Unterrichtszeit zum Klimastreiken gezwungen worden, hiess es in den Medien. Nun hat sich der Regierungsrat zum Fall geäussert.
MARK POLLMEIER
Drei ...
Im März sorgte eine Schulangelegenheit schweizweit für Furore: Schüler der Oberstufenschule (OSS) seien während der Unterrichtszeit zum Klimastreiken gezwungen worden, hiess es in den Medien. Nun hat sich der Regierungsrat zum Fall geäussert.
MARK POLLMEIER
Drei Klassen der OSS waren am 15. März mit selbstgebastelten Protestschildern zum internationalen Klimastreiktag nach Thun gereist, gemeinsame Abfahrt am Bahnhof Frutigen: 11.32 Uhr. Die Eltern der SchülerInnen wurden vorgängig schriftlich über die Teilnahme informiert – und dabei geschah offenbar schon der erste Fehler.
Nach der Darstellung von Schule und Gemeinde kursierten drei Elternbriefe. Einer davon war korrekt formuliert und enthielt auch einen Talon, mit dem das Einverständnis der Erziehungsberechtigten abgefragt wurde. Die Teilnahme sei «selbstverständlich freiwillig» hiess es in diesem Schreiben. In den beiden anderen Elternbriefen dagegen wurde der Eindruck vermittelt, die Streikteilnahme sei eine verpflichtende Schulveranstaltung. So hiess es im abgedruckten Zeitplan jeweils: «14.24 Ende obligatorischer Unterricht am Bahnhof Frutigen.» Auch dass die Schule die Kosten für den Ausflug trug, liess vermuten, die Demo sei Teil des ordentlichen Schulunterrichts.
Ein Grossrat schaltet sich ein
Abgesehen von der unklaren Kommunikation geschah in der Angelegenheit ein zweiter Fehler. Zumindest teilweise lag die Demo-Teilnahme innerhalb der Unterrichtszeit. Das war seitens der Schule offenbar durchaus beabsichtigt: In den Elternbriefen wird die Fahrt nach Thun begründet mit behandelten Unterrichtsthemen, etwa «Das politische System der Schweiz», «Klima-Wandel» oder «Argumentieren und Diskutieren». Doch auch wenn sich der Streikbesuch inhaltlich rechtfertigen liess – erlaubt war er deswegen noch nicht. Sowohl das Amt für Volksschulen als auch der Regierungsrat hatten sich zu dieser Frage schon mehrfach klar geäussert: Für die Teilnahme an politischen Aktionen stehen die fünf freien Schulhalbtage zur Verfügung. Ersatzweise könne die Schule eine andere Form der Kompensation verlangen, etwa ein Referat für den Unterricht.
Bei manchen Eltern, aber auch bei einigen SchülerInnen sorgte der ganze Vorgang für Irritation. Damit der Frutiger Schülerstreik zu einem Medienthema wurde, brauchte es allerdings noch einen Katalysator, und diese Rolle übernahm ein Grossrat aus Unterlangenegg. Statt sich mit ihren Anfragen an die OSS oder die Gemeinde zu wenden, informierten Frutiger Eltern nämlich Samuel Krähenbühl (SVP) und spielten ihm auch den Elternbrief zu. Und der sprang sofort auf das Thema an.
Via Facebook begann Krähenbühl «als Mitglied der Bildungskommission des Bernischen Grossen Rates» gegen die OSS zu schiessen und sammelte dafür etliche «Likes» ein – auch aus dem Frutiger Gemeinderat. In Radiointerviews machte er seiner Empörung Luft, dass an Schulen klar die Neutralität verletzt werde. Besonders breit kam dabei Frutigen zur Sprache, aber Krähenbühl erwähnte auch die «Schule in Schlieren» (gemeint war Schliern bei Köniz), in der man Werbeflyer für einen Klimastreik aufgehängt hatte.
Frutigen wird zum Politikum
Und Krähenbühls Publicity wirkte. «Schule zwingt Schüler zur Teilnahme an Klimademo» schrieb «20 Minuten», «Schüler mussten an Klima-Demo teilnehmen» titelte der «Blick» und fragte beim Vorsteher des Amts für Volksschulen besorgt nach, was denn da los sei.
Auch politisch hatte der Frutiger Schülerstreik Folgen. In einer dringlichen Motion verlangte Grossrat Krähenbühl, dass die Erziehungsdirektion im Kanton Bern den Grundsatz der politischen Neutralität wieder durchsetze. «Der Missbrauch des obligatorischen Unterrichts sowie die politische Propaganda auf Volksschulstufe müssen in Anbetracht der anhaltenden Kundgebungen unverzüglich unterbunden werden.»
Das freilich war mittlerweile bereits geschehen. Durch die breite mediale Berichterstattung war auch die Gemeinde Frutigen aufgeschreckt – und hatte sofort reagiert. Die OSS wurde vom Gemeinderat angewiesen, Aktionen wie die Streikteilnahme nicht mehr zu bewilligen. Zudem wurde Schulleiter Matthias Zaugg von der Schulkommission zu einem Gespräch einbestellt, in dem die Vorkommnisse aufgearbeitet werden sollten. Zaugg selbst hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Fehler eingeräumt. Allerdings bestritt er, die SchülerInnen der OSS seien kollektiv politisch instrumentalisiert worden.
«Umweltthemen gehören zum Unterricht»
Während der Vorfall vor Ort relativ schnell bereinigt war, dauert die politische Aufarbeitung noch an. Anders als von Samuel Krähenbühl beantragt, wurde seine Motion nicht als «dringlich» eingestuft. Ein halbes Jahr nach dem Thuner Streik hat nun der Regierungsrat seine Stellungnahme zu Krähenbühls Forderungen veröffentlicht – und die Motion zur Annahme empfohlen. Man unterstütze die Forderungen des Motionärs, diese würden heute schon so gehandhabt. «Der Regierungsrat wird sich auch weiterhin dafür einsetzen, dass dies so bleibt.»
In seiner Begründung macht der Regierungsrat jedoch auch deutlich, dass politische und gesellschaftliche Themen zum Lehrauftrag an bernischen Volksschulen gehören. Die öffentliche Volksschule sei zwar gemäss Kantonsverfassung konfessionell und politisch neutral. Ein breites gesellschaftliches Phänomen wie die Klimastreiks müsse aber im Unterricht Platz haben – wenn es ausgewogen dargestellt werde und verschiedene Standpunkte zulasse. Die beiden in der Motion erwähnten Beispiele Frutigen und Schliern seien aus Sicht des Regierungsrates klare Ausnahmen. «Die nötigen Massnahmen wurden durch die Gemeinde bereits vorgenommen.» Sprich: Hier bestehe kein weiterer Handlungsbedarf.
Anders als Samuel Krähenbühl unterstellt der Regierungsrat in seiner Begründung auch keine obligatorische Teilnahme an der Klimademonstration in Thun. «Es wurde niemand zur Teilnahme am Streik gezwungen», heisst es in der Begründung.
Die Motion ist nun für die Wintersession des Grossen Rates traktandiert, die am 25. November beginnt. Der Termin liegt nach den eidgenössischen Wahlen, und da sich offenbar alle politischen Ebenen einig sind, dürfte das Geschäft schnell abgehandelt sein.
Den vollständigen Motionstext und die Antwort des Regierungsrates finden Sie in unserer Web-Link-Übersicht unter www.frutiglaender.ch/weblinks.html