Reichenbachs Déjà-vu
29.11.2019 Reichenbach, Kiental, PolitikNeue Wasserleitungen, eine Brückenreparatur und eine neue Geschäftsstelle – die Gemeindeversammlung zeigte sich am Dienstag durchaus grosszügig. Nur ein Geschäft fiel bei der Hälfte der Anwesenden durch: die Erschliessung des Baulands an der Eystrasse.
BIANCA ...
Neue Wasserleitungen, eine Brückenreparatur und eine neue Geschäftsstelle – die Gemeindeversammlung zeigte sich am Dienstag durchaus grosszügig. Nur ein Geschäft fiel bei der Hälfte der Anwesenden durch: die Erschliessung des Baulands an der Eystrasse.
BIANCA HÜSING
Gemeindeversammlungen sind nicht selten stille Anlässe. Auch in Reichenbach winken die Bürger in der Regel die meisten Geschäfte ohne Gegenrede durch. Doch wenn sich mal jemand zu Wort meldet, entwickelt die hiesige Versammlung eine gewisse Eigendynamik. Anträge, die sonst vielleicht mühelos durchgekommen wären, werden zurückgewiesen. Und auch im «Verschiedenen» wird plötzlich diskutiert. Das war 2018 so, als der Schulausbau in Scharnachtal und die Umgestaltung des Gemeinschaftsgrabs abgelehnt wurden. Und es war am Dienstagabend so, als sich zwei Anwesende gegen die Verbreiterung der Eystrassen-Einfahrt aussprachen.
Ist die Strasse auf Dauer zu schmal?
Die Kritiker waren dem Gemeinderat keineswegs unbekannt. Als direkt Betroffene hatten sie vor zwei Jahren Einsprache gegen die Erschliessung des Burger-Baulands via Eystrasse erhoben. Weil auf dem Areal zwölf neue Wohnungen entstehen sollen, muss die Zufahrt von Gesetzes wegen optimiert werden. Der Gemeinderat entschied, zu diesem Zweck die Einmündung in die Eystrasse auszubauen und bei der Gelegenheit auch gleich die Bushaltestelle zu verlegen. Dadurch würde nicht nur das Bauland besser erschlossen, sondern auch das Grundstück der Anstösser. Zudem tue man etwas für den öV. Der Überbauungsplan ist eigentlich rechtskräftig, doch die Anstösser sind noch immer nicht zufrieden. In einer rund zehnminütigen Ansprache erklärten sie der Versammlung, warum sie die vorliegende Variante als nicht nachhaltig erachten. Das schmale «Eygässli» eigne sich auf Dauer nicht, den Verkehr zwölf – oder mehr – zusätzlicher Anwohnerfamilien zu tragen. Eine Steigerung von 30 auf 200 Fahrten am Tag sei für den Wander-, Velo- und Schulweg eine Zumutung. Auch aus finanzieller Sicht sei die vorliegende wohl nicht die beste Variante. Schliesslich habe die Gemeinde das Grundstück der Einsprecher jahrzehntelang kostenlos als Haltestelle nutzen können – warum sollte man nun für viel Geld eine neue bauen?
«Es ist alles offen»
Die Argumente verfingen offenbar – wohl auch deshalb, weil der Gemeinderat sich nicht noch einmal zu Wort meldete, um sie zu entkräften. Und so wurde der Antrag der Anstösser, den 600 000-Franken-Kredit zurückzuweisen, von einer hauchdünnen Mehrheit angenommen. 63 der 124 anwesenden Stimmberechtigten votierten dafür, das Projekt noch einmal zu überarbeiten. Von einer Niederlage will Gemeinderatspräsident Hans-Ulrich Mürner indes nichts wissen. «Ich begreife das Votum der Bürger als Aufforderung, nach einer anderen Lösung zu suchen.» Wie diese aussehen könnte und ob eine alternative Zufahrt denkbar wäre, könne er noch nicht sagen. «Es ist alles offen. Der Gemeinderat wird sich in seiner nächsten Sitzung über das weitere Vorgehen beraten.» Gleichwohl betont Mürner: «Erschliessungspflichtig sind wir sowieso, und die vorgeschlagene Variante ist rechtskräftig. Wenn es eine Alternative geben soll, müssen sich entweder die Anstösser oder die Burger bewegen.» Warum er das Geschäft nicht besser verteidigt hat, begründet der Obmann so: «Bei einem Rückweisungsantrag muss ich immer abwägen: Präsentiere ich noch einmal die Argumente oder wird mir das als unzulässige Beeinflussung ausgelegt?» Letzteres habe er nicht riskieren wollen.
Die Waldpflege soll optimiert werden
Was die übrigen Traktanden betrifft, so gab es ohnehin nicht viel zu verteidigen. Alle Anträge des Gemeinderats wurden ohne Gegenstimme angenommen – zum Beispiel die Reform der regionalen Forststrukturen. Zur Effizienzsteigerung will Reichenbach die Bewirtschaftung und Pflege seiner Schutzwälder künftig gemeinsam mit Adelboden, Kandersteg, Kandergrund und Frutigen organisieren. Dafür wird eine Geschäftsstelle mit Sitz in Reichenbach eingerichtet, welche die Gemeinde jährlich 30 000 Franken kostet. Die übrigen Gemeinden beteiligen sich gemäss ihrem Waldanteil und ihrer Einwohnerzahl, und auch der Kanton wird einen namhaften Betrag beisteuern. Als Sitzgemeinde beantragte Reichenbach den vollen Kredit von 220 000 Franken pro Jahr. Stimmen die Partnergemeinden ebenfalls zu, könnte der «Pilot» bereits nächstes Jahr starten.
Auch die Erneuerung der Wasserleitungen im Kiental (680 000 Franken) und der Abwasserleitung zwischen Reudlenund Schützenbrücke (250 000 Franken) sowie die Reparatur der «Runsenbrücke» beim Bifängliweg (150 000 Franken) wurden widerspruchslos gut geheissen.
Das Traktandum «Verschiedenes» nutzten mehrere Anwesende als Plattform. Zu reden gab unter anderem die Parkgebühren-App «SEPP». Ein Bürger reklamierte, dass er schon mehrfach trotz korrekten Bezahlens einen Busszettel bekommen habe und plädierte für eine Verbesserung des Kontrollsystems.
KOMMENTAR
Die Quittung fürs Schweigen
Wer diese Gemeindeversammlung besuchte, konnte ein Déjà-vu erleben. Vor eineinhalb Jahren waren gleich zwei Geschäfte des Gemeinderats zurückgewiesen worden. Schon damals genügte das leidenschaftliche Votum eines Bürgers, um die Stimmung zu kippen. Schon damals liessen die Politiker dieses Votum unwidersprochen im Saal verhallen – und nachwirken. Gelernt haben sie daraus offenbar nicht.
Dabei hätte man damit rechnen müssen, dass die Bewohner der Eystrasse sich zu Wort melden würden. Sie hatten das Erschliessungsprojekt jahrelang bekämpft. Entsprechend waren dem Gemeinderat auch die Argumente bekannt, die da kommen würden. Sich darauf vorzubereiten und eine Gegenrede zu formulieren, wäre also kein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Auch hat es mit unzulässiger Einflussnahme nichts zu tun, wenn der Gemeinderat erklärt, warum er sich für eine bestimmte Variante entschieden hat.
Dass er sich nun erneut monatelang mit der Suche nach Lösungen beschäftigen muss, hat er sich daher ein Stück weit selbst zuzuschreiben.
BIANCA HÜSING
B.HUESING@GMAIL.COM