Musterfall Kandersteg
10.12.2019 Kandersteg, AnalyseGelegen auf 1200 m ü. M., rund 1300 Einwohner, ist Kandersteg in vielerlei Hinsicht eine typische Tourismusgemeinde im Berggebiet: Hoher Zweitwohnungsanteil, mit traditionellen Dorfstrukturen und doch im Umbruch. So lässt sich an diesem Dorf denn auch studieren, mit welchen ...
Gelegen auf 1200 m ü. M., rund 1300 Einwohner, ist Kandersteg in vielerlei Hinsicht eine typische Tourismusgemeinde im Berggebiet: Hoher Zweitwohnungsanteil, mit traditionellen Dorfstrukturen und doch im Umbruch. So lässt sich an diesem Dorf denn auch studieren, mit welchen Herausforderungen vergleichbare Orte in den nächsten Jahren konfrontiert sein werden. Eine entscheidende Rolle werden dabei Generationenwechsel spielen.
Voll im Gange ist der Umbruch bereits in der klassischen Hotellerie. Die Inhaber und Gastronomen, die ihre Häuser seit den 1970er/80er-Jahren führen, kommen allmählich ins Pensionsalter. Doch selbst wenn es Kinder gibt, ist längst nicht ausgemacht, dass diese den elterlichen Betrieb übernehmen möchten. Die Gründe sind vielfältig; oft haben die Jüngeren beruflich einfach eine andere Richtung eingeschlagen. Aber auch der Sanierungsstau und das veränderte Gästeverhalten spielen häufig eine Rolle. Buchungen von Touristen sind viel unberechenbarer als früher, Stammgäste mit einer Aufenthaltsdauer von zwei oder mehr Wochen gibt es faktisch nicht mehr, und auch die Bedürfnisse hinsichtlich Verpflegung und Unterkunft haben sich stark gewandelt. Im Einzugsgebiet Kanderstegs wurde gerade das Berghotel Schwarenbach verkauft (siehe auch Seite 3), im Dorf sind zwei weitere wichtige Betriebe offiziell zum Verkauf ausgeschrieben: Das «Ermitage» bei der Gondelbahn Oeschinensee und das «Pöschtli» mitten im Ort. In beiden Fällen sind die Inhaber in einem Alter, in dem man allmählich ans Aufhören denken kann, und bei beiden gibt es keinen «internen» Nachfolger. Klar ist, dass man Häuser in dieser prominenten Lage nicht einfach schliessen kann – zumal Kandersteg mit dem «Royal Park» schon ein solches Beispiel vorzuweisen hat. Ob der Übergang an neue Besitzer langfristig gelingt, wird sich erst noch zeigen. Nicht jeder Hotelier kann sich aussuchen, an wen er verkauft. Und auch die Alternative steht nicht jedermann offen: Ein Haus komplett neu aufzustellen, sowohl architektonisch wie auch punkto Gästesegment. Einer, der diesen Schritt gewagt hat, ist der Adelbodner Hotelierssohn Chris Rosser, der mit seiner Familie das elterliche Hotel Kreuz komplett neu bauen und zum Aparthotel umwandeln will. Kostenpunkt: 10 Millionen Franken. Die muss man erst einmal aufbringen.
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Was für die Hotellerie gilt, trifft freilich auch auf die übrigen Betriebe zu. Nachwuchsprobleme und ein verändertes Konsumverhalten machen der lokalen Wirtschaft aus alteingesessenen Läden und Handwerksfirmen zu schaffen. Betriebe, die es seit Jahrzehnten gab – Metzger, Bäcker, Fachgeschäfte – schliessen und verschwinden. In Kandersteg sind der «Künzi-Treff» (Lebensmittelgeschäft und Bäckerei, geschlossen seit 2013), die Metzgerei Schüpbach (aufgegeben 2014) und aktuell die Bäckerei Rohrbach Beispiele für solche Traditionsbetriebe. Ähnliche Fälle lassen sich fast überall im ländlichen Raum finden. Dabei haben es touristisch geprägte Gemeinden wie Kandersteg insgesamt noch gut: Sie sind interessant genug, als dass die Grossverteiler dort ihre Filialen unterhalten. So gibt es in Kandersteg einen Coop, und Volg übernahm das Ladenlokal von Familie Künzi. Gleichwohl geht mit jedem einheimischen Betrieb, der verschwindet, etwas verloren: Vielfalt, Geschichte, Heimatgefühl, vielleicht sogar eine Ausbildungsstätte. Das Internet, wo sich heute nahezu alles bestellen lässt, kann nichts davon ersetzen.
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Eine weitere Generationenbaustelle ist der Zweitwohnungsmarkt. Kandersteg hat einen Zweitwohnungsanteil von 50 Prozent. Die Effekte, die eine solche Quote mit sich bringt, werden unter dem Schlagwort «kalte Betten» zusammengefasst: Viele Zweit- und Ferienwohnungen sind nur episodisch belegt und stehen den Rest des Jahres leer. Sie sind, wenn man so will, ungenutzter Raum – mit allen Folgen, die damit zusammenhängen. Die Problematik der leerstehenden Wohnungen könnte sich künftig noch einmal zuspitzen. Viele bisherige Nutzer von Zweit- und Ferienwohnungen kommen in ein Alter, in dem sie ihre Immobilie gern weitergeben würden. Doch an wen? Die Kinder oder Enkel zeigen ein gänzlich anderes Reiseverhalten als die Älteren. Sie entscheiden kurzfristiger, spontaner, die Urlaubsziele sind vielfältiger und liegen weiter entfernt. Neue Beherbergungsformen wie Airbnb machen es möglich, sich überall auf der Welt kurzfristig eine Wohnung zu buchen. Sich mit einer eigenen Unterkunft langfristig an einen Ort zu binden, ist für diese Generation dagegen nicht erstrebenswert – vor allem, wenn diese Unterkunft auch noch erheblichen Modernisierungsbedarf aufweist. Mancherorts sind die Folgen dieser Entwicklung schon voll spürbar – etwa in Leukerbad, Zweitwohnungsanteil über 70 Prozent. Jede sechste Ferienwohnung, rund 500 Objekte, stehen dort zum Verkauf, der Markt gilt als übersättigt, die Preise sind gesunken. Nun sucht man nach Wegen, die Situation zu managen. Eine der Ideen: Eine eigens dafür gegründete Gesellschaft soll die renovationsbedürftigen Wohnungen aus den Siebziger- und Achtzigerjahren übernehmen, sie modernisieren und dann professionell vermieten. Die Besitzer haben dabei ein Rückkehrrecht: Wenn sie möchten, können sie die Wohnungen nach einigen Jahren wieder übernehmen.
Vom Generationenwechsel betroffen ist schliesslich das öffentliche Leben insgesamt: Vereine, OKs, politische Parteien, Behörden. Das allein ist nichts Ungewöhnliches; schon immer mussten sich solche Institutionen ab und zu neues Personal suchen. Auch hier haben sich allerdings die Umstände geändert. Verbrachte man früher seine Freizeit weitgehend im Dorf, ist heute die Mobilität grösser, das Angebot vielfältiger – nicht zuletzt dank der neuen Medien.
Auch die Arbeitswelt ist eine andere als noch vor 20 Jahren: Die Aufgaben sind komplexer, die Belastung ist gestiegen, und sei es nur, weil der tägliche Arbeitsweg raus aus dem Tal führt. Gewandelt haben sich schliesslich gesellschaftliche Rollenbilder. Früher führte die Frau den Haushalt und hütete die Kinder, während der Mann irgendwelche Ämter übernehmen konnte, im Vereinsvorstand, als Gemeinderat oder Kommissionsmitglied. Diese Zeiten sind vorbei; viele haben genug damit zu tun, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Für «Nebenjobs» bleibt kaum noch Platz – zumal diese Ehrenämter auch längst nicht mehr das Ansehen mit sich bringen, das man sich vielleicht wünschen würde. Dass die Wechsel in Vereinsvorständen und Milizämtern reibungslos vonstatten gehen, ist also keine Selbstverständlichkeit mehr. Zwar gelingt es meist noch, solche Posten zu besetzen – oft nach einer Vakanz und mit neuen Leitungsmodellen wie Co-Präsidien. Doch es ist deutlich, dass die Schwierigkeiten zunehmen, und sie werden sich parallel zur demografischen Entwicklung noch verstärken.
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Ein echtes Generationenthema ist schliesslich der Klimawandel. Obwohl dort vergleichsweise wenig Treibhausgas produziert wird, ist das Berggebiet schon jetzt besonders stark davon betroffen. Erst recht wird das Problem kommende Generationen beschäftigen – schon in wirtschaftlicher Hinsicht. Schmelzende Gletscher und der ausbleibende Schnee im Winter stellen das Geschäftsmodell Wintertourismus infrage. Zwar investiert man vielerorts in leistungsfähige Beschneiungsanlagen oder experimentiert mit Snowfarming. Doch sollte eintreten, was die Klimaforscher vorhersagen, ist all das nur Symptombekämpfung – die in der Öffentlichkeit nicht einmal sonderlich gut ankommt. Viele, die nicht im Berggebiet leben, sehen die weissen Kunstschneebänder auf braunen Hängen als Fanal, als Symbol für die beschleunigte Erderwärmung. So kommt es vor, dass eine Snowfarming-Piste in den Medien als Klima- und Umweltsünde gegeisselt wird – auch wenn sie das nachweislich nicht ist. Auch mit Blick auf den kriselnden Wintertourismus war Kandersteg bisher in einer vergleichsweise komfortablen Situation. Während der Nachbarort Adelboden nach wie vor eine ausgesprochene Winterdestination ist, war in Kandersteg schon immer der Sommer wichtiger, die Abhängigkeit vom Wintersport deutlich geringer. Natürlich ist der ausbleibende Schnee langfristig auch für Kandersteg ungünstig – immerhin rühmt sich der Ort, eines der grössten Langlaufgebiete der Schweiz zu sein. Aber das eigentliche Problem sind derzeit nicht die schneelosen Loipen unten im Dorf, sondern ein instabiler Geröllhang weiter oben. Dort nämlich wackelt, auch das wohl eine Folge der Klimaerwärmung, der «Spitze Stei». Schon heute ist der Weg hinauf zum Oeschinensee teilweise gesperrt. Das betrifft einerseits Wanderer und Wintersportler, andererseits aber auch den See selber: Die Strasse nach oben ist auch die Lebensader der dortigen Hotellerie. Was, wenn die Bedrohung durch Gesteinsabbrüche und Murgänge zum Dauerszenario wird, wenn sich gesperrte Wanderwege und Waldabschnitte auch im Sommer nicht vermeiden lassen? Dann wäre nicht nur die wirtschaftliche Grundlage der Hotels am See gefährdet, sondern die des Ortes insgesamt. Gewiss, der «Spitze Stei» ist ein Spezialfall, mit dem andere Orte so nicht konfrontiert sind. Die grundsätzliche Problematik – auftauender Permafrost, bröckelnde Berghänge, extreme Wetterereignisse – wird jedoch die meisten Gemeinden im alpinen Raum beschäftigen. Genau wie sich viele Städte künftig wohl mit glühender Sommerhitze herumschlagen werden. Denn das ist gerade das Merkmal solcher so genannter Megatrends: Sie betreffen nahezu alle, und niemand wird sich ihnen einfach entziehen können. So gilt es also, die Veränderungen bestmöglich zu gestalten. Die Rezepte dafür werden seit Jahren diskutiert: Zusammenarbeit verstärken, für eine gute Verkehrsanbindung sorgen, in die Infrastruktur investieren, eine ganzjährige Angebotspalette schaffen. Die regionale Wertschöpfung stärken, staatliche Förderinstrumente nutzen, die Digitalisierung als Chance begreifen. Vieles davon ist auf gutem Weg – auch wenn das Tempo manchmal etwas höher sein könnte. Doch es gibt weitere, «softe» Faktoren, die zunehmend wichtig werden. In einer gesamtschweizerischen Perspektive wird das politische Gewicht ländlicher Regionen weiter abnehmen. Schon jetzt sind Volksabstimmungen, die das Berggebiet betreffen, häufig von einem Stadt-Land-Graben belastet. Um die schleichende Entfremdung der Regionen zu stoppen, sind auf allen Ebenen Vermittler nötig. Gefragt sind dabei nicht nur die politischen Akteure, sondern gerade auch die Bevölkerung im Berggebiet. Denn in touristisch geprägten Regionen ist jeder irgendwie Gastgeber – auch dann, wenn er selbst einmal nicht unmittelbar von den Feriengästen profitiert. Alle sind mitverantwortlich dafür, was aus ihrem Ort wird. Wichtig ist schliesslich, den Wandel als solchen zu akzeptieren – und ihn mitgestalten zu wollen. Es nützt nichts, den früheren Wintern nachzutrauern, die Digitalisierung zu verfluchen oder auf die wankelmütigen Gäste von heute zu schimpfen. Die Grosswetterlage ist wortwörtlich, wie sie eben ist. «Deal with it», würde ein Engländer sagen: «Damit musst du jetzt klarkommen.» Etwas freier übersetzt könnte das heissen: «Mach was draus!»