«Ich bleibe ich – auch auf der Bühne»
24.03.2020 Frutigen, KulturPORTRÄT Am Anfang sind es markierte Textstellen auf einem Papier. Daraus entwickelt sich langsam eine Person, dann eine Handlung und zuletzt eine ganze Geschichte. Der Frutiger Thomas Schneider ist Laienschauspieler und gewährt einen Blick hinter die Kulissen seiner ...
PORTRÄT Am Anfang sind es markierte Textstellen auf einem Papier. Daraus entwickelt sich langsam eine Person, dann eine Handlung und zuletzt eine ganze Geschichte. Der Frutiger Thomas Schneider ist Laienschauspieler und gewährt einen Blick hinter die Kulissen seiner Leidenschaft.
KEREM S. MAURER
Thomas Schneider sucht die Rolle nicht. Die Rolle findet ihn. Er wird angefragt, gecastet und engagiert, wie jüngst für das Theater «Operation Schwarze Dahlie» (siehe Kasten). Wenn sich der bald 60-Jährige mit seinen rund 40 Jahren Bühnenerfahrung an eine neue Rolle heranwagt, macht er das mit System.
«Zuerst markiere ich alle meine Textstellen mit Leuchtstift», sagt er und erklärt, wie er auswendig lernt. «Ich lese meine Passagen immer und immer wieder durch. Aber nur meine!» Jedesmal bleibe etwas mehr hängen. Er sehe die markierten Stellen vor seinem geistigen Auge, kenne die Textumbrüche und erkenne quasi am Schriftbild, was dort steht. Irgendwann kann er seinen ganzen Text auswendig. «Für meine aktuelle Rolle brauchte ich dafür etwa einen Monat», resümiert Schneider.
Erst wenn sein Text sitzt, liest er, was die anderen Akteure um ihn herum sagen, bettet seine Textstücke in die Gesprächsfetzen seiner Mitspieler ein. «So entsteht die Geschichte, das Stück nimmt Formen an.» In dieser Phase verblassen die Bilder mit den markierten Textpassagen vor seinem geistigen Auge, und an ihre Stelle treten komplexere Situationen. «Dann sehe ich die anderen Schauspieler und mich auf der Bühne», erklärt der Darsteller. Die Texte koppeln sich an Szenen, wachsen während der Probezeit zu einem Ganzen zusammen.
Nicht der geborene Liebhaber
Es war das Schultheater, das Thomas Schneider schon in der 8. Klasse fasziniert hat – damals noch in Pieterlen im Seeland, wo er aufgewachsen ist. Durch seine Mutter, die ihm einst ein Inserat der «Bieler Spielleute» hingelegt hatte, fand er zu einem Theaterverein, schnupperte in seiner ersten Rolle Bühnenluft. Damals spielte er einen Chorrichter, der in Zeiten des Rauchverbots selber rauchte und dennoch andere Raucher verurteilen musste.
Diese Geschichte mit dem Titel «Tüüflisches Chrut» und ihrer sinnigen Doppelmoral veranlasste Schneider, sich vertieft mit der Schauspielerei zu beschäftigen. Er bildete sich weiter, spricht heute ein geschliffenes Bühnenhochdeutsch und «ich kann sogar ein wenig singen», schmunzelt der Mann, der oft kauzige, eher rüpelhafte Charakterrollen spielt. Die Rolle des gefühlsbetonten Romeos liege ihm dagegen nicht. «Diesen habe ich einmal mit Mitte 20 gespielt, merkte aber schnell: Das ist nicht mein Ding! Ich bin nicht der geborene Liebhaber.» Vor gut einem Jahr spielte er in Astrid Lindgrens «Ronja Räubertochter» den Räuberhauptmann Borka. Das sei «ein Polteri vom Strübschtä», lacht Schneider und ergänzt: «Diese Rolle war mir auf den Leib geschrieben.»
Einmal als schizophrener Psychopath
Schwierige Rollen faszinierten ihn und forderten ihn richtig heraus, sagt Schneider. Auf die Frage, wen oder was er gerne einmal spielen würde, sagte er: «Einen schizophrenen Psychopathen.» Es gälte, einen psychisch kranken Mann mit gespaltener Persönlichkeit darzustellen. Sekundenschnell müsste er von einem Charakter in den nächsten wechseln und dies so überzeugend mimen, dass das Publikum nur anhand von Bewegungen, Aussprache und Ausdruck erkennt, welche der multiplen Persönlichkeit gerade auf der Bühne steht. Das sei die hohe Kunst, das ist das, was Schauspielerei in Schneiders Augen ausmacht.
Aber er kann auch anders. So zum Beispiel in der «Roten Zora»: Hier wird er im kommenden Winter im Zelt des Vereins Winterzauber auf dem Thuner Mühleplatz als Fischer Gorian zu sehen sein, welcher der Bande der weiblichen Protagonistin zugetan ist. «Im Film, der etwa vor zehn Jahren gedreht worden ist, spielt Mario Adorf diese Rolle», weiss Schneider.
«Ich bewege – ich werde nicht bewegt!»
Lernt Thomas Schneider eine Rolle in einem neu geschriebenen Stück, wie es die «Operation Schwarze Dahlie» ist, weiss er zu Beginn nichts vom Charakter, den er spielen soll. Mit der Zeit erst lernt er die Person kennen. Wie ein Fallanalytiker, der für die Polizei Profile von Straftätern erstellt, nähert er sich seiner Rolle, kommt ihr über Textstücke, Gestik und Intonation näher. Den Anwalt, den er in diesem Stück spielt, habe er in den letzten Monaten richtig gut kennengelernt, sagt er. «Ich könnte eine Viertelstunde darüber referieren, was er für ein Mensch ist.» So sehr hat sich Schneider in diese Person hineingespürt, hat sie sich praktisch einverleibt.
Doch: «Ich bleibe immer mich selber», präzisiert er und verneint, dass er auf der Bühne zu einem anderen Menschen werde. Er wisse wohl genau, wie dieser spreche, sich bewege, agiere und reagiere, aber er bleibe immer Thomas Schneider. «Stellen Sie sich einen Marionettenspieler vor: Wohl verkörpere ich die Figur, aber ich bin immer der, der an den Fäden zieht. Ich bewege – ich werde nicht bewegt!» Diese Unterscheidung ist ihm wichtig, er schlüpfe nie derart in eine Rolle hinein, dass er sich selber nicht mehr spürt.
Lampenfieber ja – Nervosität nein
Lampenfieber kenne er gut, das habe er praktisch vor jeder Aufführung, lacht der gross gewachsene, breitschultrige Mann. Er relativiert aber noch im selben Atemzug, «das dauert aber höchstens zehn Minuten». Sobald er auf der Bühne stehe, sei die Nervosität weg. Dann macht er das, was er zuvor unzählige Male geprobt hat. Er wisse ganz genau, was er zu tun, zu sagen und wie er sich zu bewegen habe. Alles sei einstudiert, kaum etwas spontan. Das gebe ihm die notwendige Sicherheit. Schauspielerei sei seine Leidenschaft – und das seit bald 40 Jahren. «Ja, ich mache das wirklich sehr gerne», sagt er und gleich darauf: «Nein, wenn ich es einmal ein oder zwei Jahre lang nicht mache, vermisse ich es auch nicht!»
Er zwinkert und macht sich auf, bald beginnt eine weitere Probe für seine aktuelle Rolle. Inzwischen ist allerdings bekannt geworden, dass zusätzliche Probenarbeiten wegen der Coronakrise eingestellt wurden. Die Produktion wurde aktuell um ein Jahr auf Mai 2021 verschoben. Dann ist Thomas Schneider wieder mit Leib und Seele dabei.
«Operation Schwarze Dahlie» im Kleinen Theater am See
Eine Widerstandsgruppe im Jahr 1944 fliegt auf, ihr Anführer wird erschossen. 15 Jahre später kommen die ehemaligen Mitglieder zusammen und versuchen herauszufinden, was damals passiert ist. Wer hat sie verraten? Beim Stück über Liebe und Verrat in Zeiten der Résistance ist Gerhard Schütz für Text und Regie zuständig. Thomas Schneider spielt darin einen Anwalt. Es gibt sechs Aufführungen mit jeweils maximal 87 Zuschauern. Schneiders Kommentar: «Klein aber fein – genauso mag ich es!»
KSM
Spielort: Kleines Theater am See, Hotel Beatus Merligen. Daten: Wegen Corona-Krise auf Mai 2021 verschoben.