«Liegt nicht das Glück im Begehren?»
21.04.2020 Region, SportSERIE TEIL 1 Der Kletterklub Bergfalken schrieb in den 1970er- und 80er-Jahren Geschichte. Bekannte Alpinisten aus dem Frutigland gründeten einen Verein für Extrem-Bergsteiger, um gemeinsam zu grossen Touren aufzubrechen.
YVONNE SCHMOKER
Vor mehr als 50 Jahren ...
SERIE TEIL 1 Der Kletterklub Bergfalken schrieb in den 1970er- und 80er-Jahren Geschichte. Bekannte Alpinisten aus dem Frutigland gründeten einen Verein für Extrem-Bergsteiger, um gemeinsam zu grossen Touren aufzubrechen.
YVONNE SCHMOKER
Vor mehr als 50 Jahren konnten sich Alpinisten in einer Notsituation nicht einfach mit der «Rega App» orten lassen und auf das Brummen eines Helikopters hoffen. Das bewegte den innovativen Reichenbacher Bergsteiger Gerd Siedhoff, einen Verein zu gründen, in dem nebst gemeinsamen extremalpinistischen Unternehmungen auch die Hilfeleistung in einer Notsituation sichergestellt werden sollte. Mit seinen Kletterfreunden erarbeitete er minutiös Statuten, die folgendermassen Zweck und Ziel des Vereins formulieren: «Wir bilden einen eng kameradschaftlichen Zusammenschluss aktiver Bergsteiger extremer Richtung, die sich in loser Gemeinschaft zu grossen Bergfahrten vereinigen.» So wurde 1968 der Kletterklub Bergfalken (KBF) aus der Taufe gehoben, ein elitärer Alpinisten-Verein mit strengen Aufnahmebedingungen und in Abgrenzung zum Schweizer Alpen-Club (SAC).
Erst Kontakte wurden geknüpft
Es müssen sich nur die richtigen Menschen im passenden Moment begegnen und schon entwickeln sich Synergien. So geschehen beim Reichenbacher Gerd Siedhoff, der 1962 im bekannten Maschinenbau-Unternehmen Studer in Steffisburg auf den jungen Erich Friedli stiess. Erich Friedli bemerkte bald, dass auch Gerd sich leidenschaftlich gerne in den hohen Bergen aufhielt und animierte ihn, an einer grossen Bergfahrt im Mont-Blanc-Massiv teilzunehmen. Schon bald traten die beiden gemeinsam mit dem Frutiger Hans Peter Trachsel sowie Walter Pfister aus Wimmis die Fahrt nach Chamonix an. Die blutjungen Draufgänger Erich Friedli und Hans Peter Trachsel bestiegen die Grandes Jorasses über den «Walker-Pfeiler», eine der drei grossen Nordwände der Alpen, und den «Bonatti-Pfeiler» an der Petit Dru. Gerd Siedhoff und Walter Pfister nahmen leichtere Routen im Gebiet in Angriff.
Gerd Siedhoff wechselte beruflich in die Schlosserei von Erich Friedli Senior, dem Entwickler der Friedli-Bahre und -Seilwinde – wichtige Rettungsgeräte in der alpinen Rettung. Siedhoff erhielt nebst der Arbeit alle Freiheiten, dem Bergsteigen nachzugehen und scharte immer mehr Extremalpinisten um sich – einen Grossteil davon aus dem Frutigland. Während langer Nächte im Biwak oder auf abenteuerlichen Fahrten mit der Vespa in die Dolomiten oder die Calanques zu neuen alpinistischen Unternehmungen entwickelten die Kameraden die Idee für einen neuen Kletterklub.
Klare Strukturen und Vorstellungen
Der Kletterklub Bergfalken wurde 1968 von neun Mitgliedern gegründet, allesamt bestens ausgewiesene Alpinisten. Die Frutiger Hans Peter Trachsel, Hans und Arthur Grossen, Peter Jungen und Peter Allenbach sowie die Thuner Gerd Siedhoff, Erich von Gunten, Ernst Müller und Fritz Feller beschlossen, Training und Besteigungen gemeinsam anzugehen, in Notsituationen sofort gut ausgebildet auszurücken, Erstbegehungen zu planen und durchzuführen und materialmässig einander auszuhelfen. Mit dem kollegialen Zusammenschluss versuchten sie, das gefährliche Konkurrenzdenken auszuschliessen.
In den Statuten sind ihre Pflichten aufgelistet: Es galt, Tourenlisten und Berichte jährlich abzuliefern. Neumitglieder mussten eine Liste mit sechs exklusiven Eis- und Felstouren vorlegen, charakterlich geeignet erscheinen und wurden erst nach einer einjährigen Kandidatenzeit aufgenommen. Als Markenzeichen trugen sie von Mutter Marie Grossen gestrickte rote Pullover mit einem schwarzen Streifen.
Kurz nach der Gründung wurden die Reichenbacher Häns und Hansjürg Müller, Otto von Allmen, Richard Steiger, Hans und Jürg von Känel, der Adelbodner Robert Allenbach und die Thuner Ed Cubeus und Hans Berger – alles namhafte Bergsteiger – in den Kletterklub Bergfalken aufgenommen.
Den Japanern nach
Nachdem Hans Peter Trachsel und Gerd Siedhoff bereits 1964 die erste Winterbegehung der Lauperroute am Eiger gelungen war, beobachteten Siedhoff und Peter Jungen im Sommer 1969 beim Durchstieg der 1800 Meter hohen Eigernordwand Japaner in einer neuen, direkten Route. Jede grosse Erstbesteigung bekommt irgendwann ihre Fortsetzungsgeschichte. Schon bald hatte Peter Jungen Max Dörfliger, Otto von Allmen, Häns Müller und Hans Peter Trachsel – alle mal grad gut 20-jährig – für seinen Plan einer Wintererstbegehung der Japaner-Direttissima am Eiger überzeugt. Sie trafen sich zum Training im Klettergarten, auf Touren mit Biwak und stellten das Material zusammen. Niemand durfte Wind von ihren Plänen bekommen, sie wollten ja die Ersten sein! Ganz unauffällig machte das Quintett im Dezember einen Skitag unter der Eigernordwand, um die Verhältnisse in der Wand zu studieren. Dabei traf sie fast der Schlag: Am Wandfuss erspähten sie Spuren.
Am 20. Dezember 1969 schafften die «Auserwählten» mithilfe ihrer Kameraden 300 Kilo Material an den Wandfuss und begannen sogleich mit dem Einrichten der ersten Seillängen. Am 22. Dezember stiegen sie bis zum ersten Biwak auf. Morgens wachten sie unter einer schweren Schneeschicht auf. Es folgte ein erneuter Einstieg am 27. Dezember. An Silvester brachen sie am zweiten Eisfeld ab – es schneite, und die Wetterprognosen waren schlecht. Völlig erschöpft und enttäuscht erreichten sie die Kleine Scheidegg.
Ein altes Seil als Rettung
Am 20. Januar 1970 traten die jungen Abenteurer zum dritten Versuch an. Seillänge um Seillänge kämpften sie sich empor, einmal als Seilerster, einmal im Nachstieg oder als Schwerarbeiter mit dem Materialtransport beschäftigt. Ihr Material war im Vergleich zu heute bescheiden: «Damals gab es noch keine Ankereisgeräte, kein Akkubohrgerät, und alles wog viel schwerer», berichtet Peter Jungen in seinem Tourenbericht und fährt fort: «In einem senkrechten, von Eis überzogenen Riss finde ich kaum Tritte und Griffe, plötzlich aber ein altes Seil der Japaner. Ich prüfe – es hält! Vorsichtig belaste ich das Seil und kämpfe mich Meter für Meter daran empor. In der Mitte ein Bohrhaken, ich blicke hinunter in die gähnende Tiefe. Kurz vor dem Standplatz sehe ich, dass das Seil nur hinter einem Felsköpfchen ins Eis eingefroren ist.»
Die letzten Stufen hackte Hans Peter Trachsel ins steile Eis, bevor er am 25. Januar 1970 den Gipfel erreichte: «Da surrt plötzlich wieder unsere ‹Piper› heran und unsere Freunde brüllen uns ein begeistertes ‹Bravo› zu.» Nach sechs Tagen stand das Quintett auf dem Eiger und bestätigte seinen Kameraden auf der Kleinen Scheidegg mit grünen Leuchtraketen den Gipfelerfolg. «Liegt nicht das Glück im Begehren und nicht im Besitz?», fragt sich Peter Jungen in seinen Aufzeichnungen.
Quellen:
Archiv Kletterklub Bergfalken (Versammlungsprotokolle, Tourenberichte, alte Zeitungsartikel), Gespräche mit den Gründungsmitgliedern Gerd Siedhoff und Hans Grossen, «Sportklettern Berner Oberland» von Hans Grossen und «Eiger, die vertikale Arena» von Daniel Anker.
Zur Serie
Die Mitglieder des legendären Kletterklubs Bergfalken stürmten vor 50 Jahren die lokalen Gipfel, schafften Wintererstbegehungen, waren auf grossen Expeditionen in aller Welt und brachten ab den 1980er-Jahren den Gedanken des Freikletterns in die Schweiz. Dabei richteten sie in vielen Felsbastionen der Region interessante Routen ein und holten so internationale Spitzenkletterer ins Frutigland. In einer dreiteiligen Serie stellt der «Frutigländer» namhafte Bergsteiger aus der Region und ihre Abenteuer vor.
YS