Die WhatsApp-Seuche
28.04.2020 Coronavirus, GesellschaftDistanzlernen, Homeoffice, TV-Streaming: Die Corona-Krise wird auch als Kommunikationsphänomen in die Geschichtsbücher eingehen. Ein besonderes Kapitel dürften dabei die sozialen Medien einnehmen, die das Virus auf ganz eigene Art verbreiteten – und damit bewiesen, wie eng digital ...
Distanzlernen, Homeoffice, TV-Streaming: Die Corona-Krise wird auch als Kommunikationsphänomen in die Geschichtsbücher eingehen. Ein besonderes Kapitel dürften dabei die sozialen Medien einnehmen, die das Virus auf ganz eigene Art verbreiteten – und damit bewiesen, wie eng digital und analog inzwischen verflochten sind.
MARK POLLMEIER
Als am 11. September 2001 in New York die Türme des World Trade Centers einstürzten, liess sich das, was wir heute Soziale Medien nennen, allenfalls erahnen. Wer damals nicht atemlos vor dem Fernseher sass, wurde vielleicht von Freunden via SMS informiert. Und SMS hiess: nur Text, 160 Zeichen, mühsam eingetippt. Das mobile Internet steckte noch in den Kinderschuhen, Facebook sollte erst zwei Jahre später erfunden werden, die ersten Smartphones im Jahr 2007. Wenn man so will, war 9/11 die letzte grosse Katastrophe, die sich weitgehend übers Fernsehen und auf gedrucktem Papier verbreitete.
Bankenkrise: Zu komplex für Social Media
2007/08, als die Finanzkrise die Weltwirtschaft erschütterte, war das schon ein wenig anders. Facebook boomte, Youtube faszinierte mit seinen frei verfügbaren Videos Millionen Nutzer, das iPhone hatte gerade seinen Siegeszug angetreten. Dass die Kernschmelze der Finanzwirtschaft trotzdem kein «Internetphänomen» wurde, lag vor allem an der komplexen Materie. Kaum jemand verstand damals auf Anhieb, warum die Kredite amerikanischer Hausbesitzer dafür sorgten, dass in Europa Banken gerettet werden mussten. Hinzu kam: Die abstrakten Zusammenhänge liessen sich nur schwer in prägnante Bilder fassen. Zwar hatte sich die Berichterstattung schon stark auf Onlinemedien verlagert – auch weil diese deutlich schneller reagieren konnten als die klassische Presse. Für einen Hype in den Sozialen Medien taugte der Bankenkollaps aber nicht.
Die Corona-Krise dagegen bot und bietet dafür ideale Voraussetzungen. Das fängt schon bei der Technik an. Leistungsfähige Netzanschlüsse sind – zumindest in der Schweiz – inzwischen Standard, und das mobile Internet funktioniert fast genauso schnell wie das kabelbasierte. Endgeräte wie Smartphones sind flächendeckend verbreitet, und über die entsprechenden Apps haben Nutzer die Sozialen Medien griffbereit in der Tasche. Zwar gibt es hier altersbedingte Unterschiede: Die Jüngeren setzen eher auf Instagram oder Snapchat, die Älteren haben sich an Facebook gewöhnt. In bestimmten Berufsgruppen spielt Twitter eine grössere Rolle.
Was alle Generationen vereint: An WhatsApp kommt derzeit kaum jemand vorbei. In den gut zehn Jahren seines Bestehens hat sich der Messenger-Dienst zu einer Art Standard entwickelt. Whats-App ist der Kanal, über den die Grossmütter im Zweifel ihre Enkel erreichen. Natürlich sorgte die Corona-Krise in allen Sozialen Medien für einen regen Austausch, doch ein Grossteil floss wohl über WhatsApp. Nachrichten, Informationen, vor allem aber auch Bilder und Videoschnipsel wurden so häufig verbreitet wie nie zuvor. Es gab Tage, da verging – je nach Bekanntenkreis – kaum eine Stunde, ohne dass wieder ein paar Nachrichten aufgelaufen waren.
Für ständigen Nachschub sorgten dabei die Medien, die atemlos und rund um die Uhr Infosplitter zu Corona verbreiteten. Entscheide der Behörden oder die neusten Zahlen der Statistiker, das 15. Interview mit einem «führenden Virologen» – irgendetwas gab es immer zu vermelden. Und die «Netzgemeinde» griff all das dankbar auf und verarbeitete es auf ihre Weise.
Nervige Kinder, nörgelnde Partner
Die WhatsApp-Pandemie entwickelte sich weitgehend parallel zur tatsächlichen Krise. Ingesamt war das Virus in den Sozialen Medien bis Ende Februar noch eher selten Thema. Hier und da wurde schon gewitzelt, aber insgesamt galt Corona noch als chinesisches Problem. Die Bedrohung war weit weg.
Spätestens Mitte März änderte sich das schlagartig. Mit der Zahl der Erkrankten wuchs auch die Menge der Corona-Nachrichten, die via Social Media kursierten. Und wie im richtigen Leben gab es auch in der digitalen Welt sogenannte Superspreader, also Menschen, die beim Verbreiten besonders aktiv waren. Nur dass sie eben nicht das Virus selbst streuten, sondern nur die Bilder und Videos dazu.
Auch die Themen entwickelten sich analog zur analogen Welt. Zu Beginn war die Humorflut noch dominiert von Hamsterkäufen und knappen Schutzmasken. Jeder Entscheid des Bundesrats sorgte dann für neue Schwerpunkte: Homeoffice, nervige Kinder und nörgelnde Partner, der gestiegene Alkoholkonsum im Lockdown.
Brennende 5G-Antennen
Jede Krise hat ihre kriminellen Elemente und so kamen zu den meist harmlosen Fotomontagen und Filmchen nach einer Weile auch gefährliche Inhalte hinzu. Vor allem über WhatsApp machten zahlreiche Fakenews und Kettenbriefe die Runde und sorgten zeitweise für erhebliche Verunsicherung. Behörden wie das Bundesamt für Gesundheit oder die Polizei hatten oft Mühe, die verbreiteten Falschmeldungen wieder einzufangen.
Schliesslich griff WhatsApp selbst zu Gegenmassnahmen und führte eine Art elektronische Schutzmaske ein. Das Unternehmen bremste den massenhaften Weiterversand von Inhalten und macht nun kenntlich, wenn eine Nachricht nicht von einem persönlichen Kontakt stammt. Ausserdem verpflichtete sich der Messenger-Dienst, mit verschiedenen Gesundheitsbehörden und der Weltgesundheitsorganisation zu kooperieren, um Falschinformationen frühzeitig erkennen zu können.
Welche Auswirkungen die in den Sozialen Medien verbreiteten Fakenews haben können, zeigt sich aktuell in Grossbritannien. Dort wurden in den letzten Wochen diverse Verschwörungstheorien zu 5G verbreitet. Die Botschaft: Mit der angeblichen Corona-Pandemie solle vertuscht werden, das die Gesundheitsschäden in Wahrheit von der neuen Mobilfunktechnik stammten.
Viele Menschen glaubten den Unsinn vom «5G-Syndrom». Über 60 britische Mobilfunkantennem wurden in Brand gesetzt oder anderweitig sabotiert, der Schaden geht in die Millionen. Auch Bauarbeiter und Elektrotechniker wurden angegriffen.
Zwei Welten verschmelzen
All das macht deutlich, dass die analoge und die digitale Welt keine getrennten Sphären mehr sind. Im Gegenteil: Beide sind eng verflochten und beeinflussen sich gegenseitig. Meist gibt das, was wir als real bezeichnen, meist noch den Takt vor. Immer häufiger funktioniert der Weg aber auch umgekehrt: Vorgänge «im Internet» setzen Ereignisse in Gang, die es sonst gar nicht gegeben hätte.
Die Zahl der Corona-Witze, die über WhatsApp verschickt werden, hat in den letzten Tagen deutlich abgenommen. Heisst das, die Krise nähert sich allmählich dem Ende? Oder bedeutet es nur, dass die Menschen das Thema langsam leid sind? Bei Facebook oder Google gibt es vermutlich irgendeinen Algorithmus, der das beantworten könnte. Die Internetgiganten haben längst erkannt, dass ihre Smartphone-Apps weit mehr sind als ein lustiger Zeitvertreib.