Millimetergenau wird alles festgehalten
21.04.2020 Frutigen, GesellschaftPORTRÄT Ob Verkehrsunfall, Flugzeugabsturz oder Mord – Gerhard Reichen und sein Team vom Unfalltechnischen Dienst der Kapo Bern sind rund um die Uhr einsatzbereit. Beim Vermessen des Tatorts kann der gebürtige Frutiger auf m odernste Technik zurückgreifen.
MICHAEL ...
PORTRÄT Ob Verkehrsunfall, Flugzeugabsturz oder Mord – Gerhard Reichen und sein Team vom Unfalltechnischen Dienst der Kapo Bern sind rund um die Uhr einsatzbereit. Beim Vermessen des Tatorts kann der gebürtige Frutiger auf m odernste Technik zurückgreifen.
MICHAEL SCHINNERLING
Gerhard Reichen sitzt in seinem Büro in Bern. «Es kann sein, dass das Telefon klingelt. Dann ist das Interview beendet und ich muss ausrücken», warnt er. Reichen ist Chef der Fachstelle Vermessung des Unfalltechnischen Dienstes bei der Kantonspolizei Bern. Eine zweite Fachstelle dieser Art gibt es in Zürich. Es sind wohl nicht immer die schönsten Bilder, die der gebürtige Frutiger bei seinen Einsätzen zu sehen bekommt. Wenn er anlässlich eines Tötungsdelikts ausrücken muss, besteht sein primärer Job in der Vermessung des Tatortes. «Dies insbesondere, wenn der Sachverhalt nicht zu 100 Prozent klar ist», so Reichen. Mit Hilfe von 3-D-Scanner, Fotogrammetrie und Multikopter-Drohne ist das Team in der Lage, alles 1:1 massgenau festzuhalten. «Wir sind in Bern punkto Arbeitsausrüstung auf dem modernsten Stand.»
Einige Stunden vor Ort
«Wir arbeiten zwischen zwei und zehn Stunden vor Ort. Dabei wird millimetergenau alles festgehalten», erklärt Reichen. Anschliessend werden im Büro alle Bilder / Scans am Computer ausgewertet, um so einen virtuellen Tatort zu erhalten. Ziel der Arbeit ist es, der Staatsanwaltschaft ein wichtiges Instrumentarium zur Urteilsfindung in die Hand zu geben. Zum Beispiel ist man in der Lage, anhand von Blutspritzern die Position des Opfers respektive des Täters zu bestimmen. «Wir können so Aussagen von Beteiligten bestätigen oder widerlegen», erklärt der Fachstellenleiter. Bei einem Fall können schon bis zu einem Terabyte Daten anfallen. «Diese werden auf einem Server gespeichert und spätestens nach der gesetzlich vorgeschriebenen Zeit wieder gelöscht.» In Reichens Anfangsjahren rückte man noch mit dem Fotoapparat in der Hand und einem Messband aus. «Wir erstellten einfache Pläne. Eine perfekte Rekonstruktion war damals nicht optimal zu machen.» Arbeiten, die vorher eine Woche dauerten, erledigt das Team nun an einem Vormittag. «Mich fasziniert, was heute mit den modernen Hilfsmitteln möglich ist. Wir können so alles sauber darstellen.» Ist es überhaupt noch möglich, eine Straftat zu begehen, ohne erwischt zu werden? «Die Chancen sind äusserst gering.»
Jeden Tag aufs Neue spannend
«Wir sind oft schweizweit unterwegs. Und es ist jedes Mal anders», erklärt der 53-Jährige. Als er noch als Feinmechaniker arbeitete, habe er 1000 Stück von etwas produziert. Das sei teilweise doch recht eintönig gewesen. Anders sein jetziger Job: «Heute müssen wir ins Gebirge, wenn ein Flieger abstürzt, morgen sind wir mit der Vermessung eines schwerwiegenden Verkehrsunfalles beschäftigt und an einem weiteren Tag mit der Wärmebild-Drohne an einer Personensuche beteiligt.» Seine Position kann nur durch den regulären Polizeidienst erreicht werden. Auch gibt es keine spezifischen Ausbildungen dafür. «Neue Ideen bringen wir sebst ein. Es herrscht nie ein Stillstand – und das ist das Interessante», so Reichen.
Der Unfalltechnische Dienst wurde 1931 gegründet. Bis 1991 wurde mit einer Stereo-Messkamera gearbeitet. «In diesen 60 Jahren wurde technisch kein wirklicher Fortschritt erzielt.» 1991 brach bei der Kapo Bern das Zeitalter der Digitalisierung an. Von nun an schritt die technische Entwicklung immer schneller voran. «Die Messmethoden wurden präziser, vielfältiger, aber auch anforderungsreicher.»
Ein Beruf, der Zukunft hat
«Für mich ist das ein sehr interessanter Job. Dafür geeignete Leute zu finden, ist sehr schwierig», meint Reichen. Seine wissenschaftliche Mitarbeiterin hat Geschichte geschrieben: Sie entwickelte zusammen mit einem Ballistiker (Experte für Schusswaffen) eine komplexe Berechnung, welche die Flugbahn der Blutstropfen nicht wie anhin linear, sondern ballistisch erfassen kann. Der fachtechnische Austausch findet in Workshops mit Kollegen von schweizerischen Behörden sowie europäischen Landes- und Bundeskriminalämtern statt. Die Fachstelle Vermessung wurde 2006 infolge des enormen Pensums gegründet. Reichen hatte sich zuvor auf 3-D-Zeichnungen und Rekonstruktionen spezialisiert. Das fand bei der Staatsanwaltschaft grossen Anklang. Heute arbeiten vier Personen in der Fachstelle. Neben Reichen gibt es noch einen Stellvertreter und zwei wissenschaftliche Mitarbeiter. Das Büro in Bern ist in der Regel von 6 bis 18 Uhr besetzt. In der Nacht gibt es einen Pikettdienst.
ZUR PERSON
Der 53-jährige Gerhard Reichen ist gelernter Feinmechaniker und wohnt in Aeschiried. Der gebürtige Frutiger ist Vater einer Tochter. 1988 besuchte er die Polizeischule. Er war 1989 in Innertkirchen stationiert und arbeitete anschliessend in Interlaken bei der Bezirkswache. Danach kam er zur Mobilen Polizei Gesigen. Den letzten Schritt zum Unfalltechnischen Dienst machte er 1996. Seine Hobbys sind Gleitschirmfliegen (seit 37 Jahren), Biken, Klettern, Ski- und Bergtouren.
MS