«Die Bergbahnen können Mitarbeitende und Gäste schützen»
01.05.2020 Coronavirus, Tourismus, RegionDer Bundesrat will am 27. Mai entscheiden, ob die Seil- und Bergbahnen der Schweiz ihren Betrieb am 8. Juni wieder aufnehmen dürfen. Der «Frutigländer» sprach mit dem Kandersteger Fritz Jost, Vizedirektor des Branchenverbandes Seilbahnen Schweiz (SBS), über Planungsfristen und ...
Der Bundesrat will am 27. Mai entscheiden, ob die Seil- und Bergbahnen der Schweiz ihren Betrieb am 8. Juni wieder aufnehmen dürfen. Der «Frutigländer» sprach mit dem Kandersteger Fritz Jost, Vizedirektor des Branchenverbandes Seilbahnen Schweiz (SBS), über Planungsfristen und Schutzkonzepte.
Fritz Jost, der Lockdown ist für viele Seilund Bergbahnen zu einer Existenzfrage geworden. Sie drängen auf eine rasche Öffnung. Gleichzeitig sind sich alle einig, dass eine zweite Ansteckungswelle verhindert werden muss. Wo positioniert sich der Branchenverband SBS zwischen diesen beiden Interessen?
Die Situation zeigt klar, wie wichtig der Tourismus als Ganzes für die Schweiz ist. Der Bundesrat gewichtet aber zum Beispiel wiedereröffnete Tattoostudios höher als die Tourismusbranche mit ihrer grossen volkswirtschaftlichen Rolle. Solange «Stay at home» gilt und das Versammlungsverbot besteht sowie die Minimalabstände ein Muss sind, werden nur wenige Seilbahnen in der Lage sein, ein stimmiges Produkt anzubieten und es betriebswirtschaftlich zu betreiben. Völlig klar ist: Auch wir wollen kein Wiederaufflammen der Pandemie. Aber wir sind überzeugt, dass die Bergbahnen die Gäste und Mitarbeitenden mit sinnvollen Massnahmen sicher und geschützt transportieren können.
Die Lockerungspolitik des Bundesrats erfolgt in drei Phasen. Der Tourismusgipfel vom vergangenen Wochenende hat aber keine Klarheit gebracht, wann die Anlagen wieder öffnen dürfen. Ist diese Planungsunsicherheit für den Verband akzeptabel?
Der Tourismus fühlt sich im luftleeren Raum gelassen – und das ist inakzeptabel. Wir brauchen dringend eine minimale Planungssicherheit, das heisst, wir erwarten vom Bundesrat eine zeitliche Perspektive für eine Öffnung. Dann kann die Branche das Wiederhochfahren und die Angebote planen.
Der Bundesrat hat aber doch explizit versichert, dass Tourismus in der Schweiz im Sommer 2020 möglich sein wird. Weshalb brauchen sie mehr als diese Zusicherung?
Faktisch sind allen Bahnbetreibern die Hände gebunden, um konkret zu handeln. Denn bei einer Bergbahn kann man nach einem so langen Stillstand nicht einfach auf den Knopf drücken, da braucht es viele Vorbereitungen. Wir sehen schlicht nicht ein, weshalb der öffentliche Verkehr fahren darf und der touristische Verkehr nicht. In den Grossraumwagen der Eisenbahnen fahren unterdessen täglich wieder deutlich mehr Personen hin und her als sich am Berg Gäste aufhalten.
Viele Bahnen eröffnen erst im Juni ihre Sommersaison. Weshalb hatte der Verband bislang verlangt, schon am 11. Mai zu starten?
Es gibt viele Bahnen, auch hier im Tal und rund um den Thunersee, die starten normalerweise bereits im April und möchten die wichtigen Einnahmen für künftige Investitionen und Löhne selbst erarbeiten, statt Kurzarbeitsentschädigung über den Staat zu beziehen und die Mitarbeiter zu Hause zu lassen. Kommt dazu, dass ja eine Bergbahn direkt und indirekt auch für andere Betriebe sehr wichtig ist, etwa für das Gastgewerbe, die Beherbergungsbetriebe, Sportgeschäfte, die Lebensmittellieferanten und auch das Baugewerbe und andere Handwerksbetriebe.
Der SBS erarbeitet in Abstimmung mit den Regionalverbänden ein Schutzkonzept für die Branche, das sich an den bekannten Massnahmen des öffentlichen Verkehrs orientiert. Auf welchen Säulen basiert das Konzept?
Es geht um die Sicherheit von Gästen und Mitarbeitenden und die Verhinderung, dass sich das Virus in touristischen Betrieben weiterverbreiten könnte. Inhaltliche Grundlage sind die verbindlichen Vorgaben des SECO und BAG. Zudem gibt es ein ÖV-Schutzkonzept (SBB, Postauto), in Arbeit ist das übergeordnete Konzept des touristischen Verkehrs (Busse, Schienenbahnen, Schiffe, Seilbahnen). Der Gast soll möglichst einheitliche Schutzmassnahmen antreffen, wenn er mehrere Verkehrsmittel benutzt. Weitere Branchen, die am Berg auch vorkommen, haben ihre eigenen Empfehlungen: Gastronomie, Sportartikelvermietung, Kiosk, Bauhaupt- und Nebengewerbe usw.
Welche zusätzlichen (speziellen) Massnahmen wären aus Sicht des Verbandes nötig und möglich, um Ansteckungsrisiken beim Transport auf den Berg zu reduzieren? Tropfenzähler-System beim Zutritt zu den Anlagen? Regelmässige Desinfektion der Warteräume, Transportmittel, Freizeitgeräte? Mitarbeitende mit Masken?
Diese Massnahmen werden im Schutzkonzept aufgelistet, es gibt auch Bereiche mit ausschliesslicher Eigenverantwortung der Gäste, zum Beispiel auf Wanderwegen, bei Feuerstellen oder auf Spielplätzen.
Der Verband hat Ende März eine Umfrage bei den Mitgliedern gemacht. Der Ertragsausfall wurde ab dem Stillstand von Mitte März bis Ende April auf mehr als 300 Millionen Franken beziffert. Wie hoch schätzen sie den aufgelaufenen Betriebsverlust der Berg- und Seilbahnen insgesamt?
Dazu ist einzig zu ergänzen, dass mit jedem Franken, der bei Bergbahnen fehlt, im regionalen volkswirtschaftlichen Wertschöpfungskreislauf weitere fünf bis sechs Franken fehlen.
Wie unterstützt der Verband die betroffenen Unternehmen in ihrer Not?
Der Verband steht in engem Kontakt mit seinen Mitgliedern und den Regionalverbänden. Wir bereiten relevante Informationen der Behörden für unsere Mitglieder auf, etwa über die Corona-Überbrückungskredite oder die Kurzarbeit. Dazu kommen abgestimmte Hilfsmittel für die Praxis und individuelle Beratungen.
Was empfehlen Sie Mitgliedern, die unter Liquiditätsproblemen leiden?
Dazu hat der Bund in der ausserordentlichen Lage seine Kassen geöffnet und zusammen mit den Banken Hilfsinstrumente geschaffen, die offenbar rege genutzt werden.
Viele Anlagen planen notwendige Investitionen. Nun fehlt Geld dafür. Erwarten auch die Seilbahnen staatliche Hilfe, wie dies in anderen Branchen geschieht?
Es gibt erfreulicherweise einige Betreiber, die geplante Investitionen trotzdem umsetzen: Von den grösseren und strategisch wichtigen Projekten möchte ich als Beispiel die Lenk Bergbahnen nennen: Die Beschneiung am Betelberg, gepaart mit der Steigerung der Sommeraktivitäten, wird umgesetzt. Viele regionale Auftragnehmer sind froh um diese Arbeiten. Weitere grössere Vorhaben werden u. a. in Zermatt oder im Toggenburg realisiert. Aber wir müssen auch sehen: Es haben lange nicht alle Bergbahnen ein Polster, das in einer solch schwierigen Situation ein antizyklisches Verhalten erlaubt.
Die Seilbahnbranche zählt schweizweit rund 16 000 Mitarbeitende. Für wie viele wurde Kurzarbeit beantragt?
Uns sind zu den Bergbahnen keine Zahlen bekannt. In den Medien war zu lesen, dass im ganzen Land für mehr als ein Drittel der Arbeitnehmenden aktuell Kurzarbeit angemeldet sei. Da der touristische Verkehr ja vollständig stillgelegt worden ist, kann man davon ausgehen, dass die Kurzarbeitsquote bei den Bergbahnen höher sein wird als im landesweiten Durchschnitt über alle Branchen.
Das Ausbildungszentrum des SBS in Meiringen ist derzeit geschlossen. Erhalten die Lehrlinge Unterstützung per Internet/ Video? Wann nimmt das Zentrum seinen Betrieb wieder auf?
Innert Wochenfrist nach der Schliessung der Bildungsstätten in der Schweiz haben wir im AZ Meiringen den Unterricht für Lernende wie auch die Weiterbildung für Kaderleute auf Fernunterricht und Videokonferenz umgestellt. Diese Umstellung auf die moderne IT-Lösung hatten wir eigentlich für August geplant. Dass wir dies nun mittels Sondereinsätzen in viel kürzerer Zeit geschafft haben, spricht für die Beteiligten. Der Präsenzunterricht in Meiringen sowie geplante Prüfungen werden voraussichtlich ab 8. Juni 2020 wieder möglich sein.
Alle reden davon, dass die SchweizerInnen dieses Jahr im Inland Ferien machen sollen. Wie kann es gelingen, dass der Binnentourismus die Verluste der Tourismusbranche begrenzt?
Entscheidend sind aufeinander abgestimmte und unter den Schutzbestimmungen funktionierende Angebote, die sowohl Bahnfahrten wie Unterkunft, Gastronomie und Beschäftigungen usw. enthalten. Gruppenausflüge und Firmenevents werden zum grossen Teil leider wegfallen und sollen mit Individualgästen kompensiert werden. Solange die Grenzen für Personenverkehr geschlossen bleiben, gibt es kaum Alternativen zu Schweiz-Ferien.
Braucht es dafür besondere Marketingmassnahmen oder spezielle Angebote?
Der nationale Markt wird von Schweiz Tourismus bearbeitet und so auf die vielfältigen Angebotsperlen der Schweiz eingestimmt. Ein bunter und attraktiver Strauss ist bereit. Preisdumping bringt nicht mehr Gäste und ist nicht nachhaltig.
Wie können Seilbahn-Angebote kurzfristig verbessert werden, damit sie 2020 für den Binnentourismus attraktiv sind?
Ich kann mir vorstellen, dass viele Schweizer jetzt die Gelegenheit nutzen, um neue Berge und Gegenden zu entdecken. Für die Tourismusakteure bietet sich dieses Jahr also eine besondere Chance, im Inland viele neue Gäste zu gewinnen und zu begeistern. Haben Sie ihre persönliche Bucket-List schon erstellt?
Sie sind Kandersteger. Wie präsentiert sich die Lage der Seil- und Bergbahnen im Berner Oberland?
Abgerechnet wird am Jahresschluss. Die Sommerausflugsberge wären bereit und warten nur auf das «Go» aus Bundesbern. Wer einen grossen Anteil an nationalen Gästen hat, kann bei normalem Saisonverlauf hoffen, mit einem blauen Auge aus der Situation zu kommen. Für Regionen, die üblicherweise stark auf ausländische Gäste ausgerichtet sind, wage ich keine Prognose. Dies betrifft nicht nur kleine Gesellschaften und viele Tourismusanbieter in der Angebotskette, es trifft auch genauso die Zugpferde im Berner Oberland: Jungfraujoch und Schilthorn.
PETER SCHIBLI
ZUR PERSON
Fritz Jost (55) ist Vizedirektor des Branchenverbandes Seilbahnen Schweiz (SBS) und Leiter der Abteilung Seilbahnen. Seit 2010 übt er ausserdem am Ausbildungszentrum Meiringen eine nebenamtliche Lehrtätigkeit aus. Der promovierte Physiker begann seine Karriere beim Bundesamt für Informatik und Telekommunikation (BIT) und bei der Swisscom. Von 2002–2009 war er Geschäftsführer der Stockhornbahn AG, von 2009–2010 leitete er das Tropenhaus Frutigen. 2010 wechselte er als Leiter Technik/Berg zu den Bergbahnen Adelboden (BAAG), bevor er 2015 zum Branchenverband SBS wechselte.
Ehrenamtlich tätig war Jost als Chef des Gemeindeführungsorgans Kandersteg (2006–2014) und als Präsident der Destination Kandersteg (früher Lötschbergregion, 2007– 2012). Zu seinen Hobbys zählen Fotografieren, Skifahren, Wandern, Reisen – am liebsten mit der Familie.
PETER SCHIBLI
Sommersaison 2020
Wann die Seil- und Bergbahnen der Region die Sommersaison eröffnen, hängt vom Bundesrat ab. Dieser will am 27. Mai entscheiden, ob sie ab 8. Juni den Betrieb aufnehmen können. Die Bergbahnen Adelboden und die Engstligenalp-Bahn planen, den Betrieb am 13. Juni aufzunehmen. Die Seilbahn Elsigen-Metsch möchte bereits am 8. Juni in den Sommer starten. Die Tschentenbahn fährt laut Webseite ab 4. Juli auf den Berg. Traditionsgemäss bereits im Mai wären die Anlagen zum Oeschinensee, auf Sunnebüel und auf die Allmenalp gestartet. Ob der Sommerbetrieb dort am 8. Juni erfolgen kann, entscheidet Bern.
PS