"Dann stehe ich auf dem höchsten Punkt der Erde"
05.05.2020 Region, SportSERIE TEIL 2 In den 1970er-Jahren schlossen sich immer mehr extreme Alpinisten dem Kletterklub Bergfalken an. Ihre spektakulären Besteigungen wurden in der Bergsteigerszene über die Grenzen hinaus wahrgenommen.
YVONNE SCHMOKER
Die hohen Berge waren alle erobert, ...
SERIE TEIL 2 In den 1970er-Jahren schlossen sich immer mehr extreme Alpinisten dem Kletterklub Bergfalken an. Ihre spektakulären Besteigungen wurden in der Bergsteigerszene über die Grenzen hinaus wahrgenommen.
YVONNE SCHMOKER
Die hohen Berge waren alle erobert, aber in den Köpfen der Bergfalken spukten unendlich viele Ideen herum rund um die Besteigung der imposanten Fels- und Eisriesen. Wintererstbesteigungen, neue Linien in markanten Felsbastionen oder auch Expeditionen zu den höchsten Gipfeln der Erde planten die extremen Bergsteiger aus dem Frutigland mit ihren Klubfreunden. Ihr Kreis erweiterte sich um Gleichgesinnte aus dem ganzen Kanton. Es fällt schwer, all die Bergfahrten der Bergfalken in den 1970er-Jahren in kurze Sätze zu fassen. Hinter ihren alpinistischen Leistungen steckt ungeheuer viel Abenteuer- und Entdeckerlust, aber auch Können, gute Selbsteinschätzung und Vertrauen in ihre Seilgefährten.
Eine Klasse für sich
«In den 1960er- und frühen 1970er-Jahren, in der zu Ende gehenden Epoche des klassischen Bergsteigens und Kletterns also, gehörte Hans Peter ‹Habi› Trachsel (Jg. 1944) aus Frutigen zu den jungen ‹Extremen›, die mit grossem Selbstvertrauen die schwierigsten Anstiege in den Alpen angingen», schreibt sein Freund Hans Grossen im Buch «Sportklettern Berner Oberland».
In der Region ist Hans Peter Trachsel noch vielen als engagierter Sekundarlehrer bekannt, als vielseitig interessierter, neugieriger und witziger Mensch, der seine bergsteigerischen Leistungen gerne hinter lockeren Sprüchen versteckt – so auch seine Ausbildung zum diplomierten Bergführer. Bis Ende 1960 tummelte er sich leidenschaftlich in den grossen Nordwänden des Alpenbogens. Seine Seilgefährten erkannten bald sein eigentliches Talent am Fels. In den schweren Bergschuhen, mit Nutzung der Haken als Tritte und Griffe, durcheilte Trachsel, oft begleitet von Gerd Siedhoff, in den Dolomiten die grossen Anstiege in den Drei Zinnen, La Civetta, Marmolada, die Cassin am Badile im Bergell, oder 1965 den Titlis-Südpfeiler.
Durch Erfrierungen alle Zehen verloren
Bewunderung herrschte in Kletterkreisen, als Trachsel mit Markus Brechbühl die erste Kletterroute an der Südseite der Wendenstöcke eröffnete, den Pfaffenhut-Südpfeiler. Am Scheideggwetterhorn gelang ihm zwei Jahre später mit dem Reichenbacher Bergführer Paul von Känel die Erstbesteigung des direkten Westpfeilers – noch heute eine echte Herausforderung für alpine Sportkletterer. Nach erfolgreicher Erstdurchsteigung der Japaner-Direttissima im Winter scheiterte er wegen schlechten Wetters in Patagonien am Cerro Torre in der Kompressorroute, die er schon damals frei klettern wollte. Später bestieg er mit Paul von Känel (Mitfinder des Riesenkristalls vom Planggenstock) den Fitz Roy. Der kälteste Berg der Welt, der Mt. Mc Kinley, veränderte Trachsels Leben schlagartig: «Ohne grosse Akklimatisation wollten wir in den Frühlingsferien den höchsten Berg Nordamerikas mit Ski besteigen. Dabei erlitt ich ein Lungenödem und wurde in letzter Minute von meinen Kameraden gerettet. Durch Erfrierungen habe ich dabei alle Zehen verloren – nicht aber den Mut und die Lebensfreude», erzählt er. Dennoch zog Trachsel wieder seine Kletterfinken an und vergnügte sich mit seinen Freunden in leichteren Plaisir-Kletterrouten, ging auf Pirsch, fischte, widmete sich der Kristallsuche oder reiste interessiert in der Welt herum.
In der Droites-Nordwand
Ende Dezember 1970 zogen in eisiger Kälte die beiden Reichenbacher Häns und Hansjürg Müller mit dem Thuner Hans Berger – alle gerade einmal 20Jahre alt – ihre Spuren zur Argentière-Hütte im Mont-Blanc-Massiv. Als Erste wollten sie dort die 1000 Meter hohe Droites-Nordwand im Winter bezwingen, laut Messner die wildeste der grossen Nordwände im Alpenbogen.
In einem ersten Anlauf richteten sie bei sehr tiefen Temperaturen, aber schönem Wetter, die 600 Meter hohe und 60 Grad steile Eiswand im unteren Teil mit Fixseilen ein. «Die Schwierigkeiten waren so gross, dass der Sichernde manchmal stundenlang am gleichen Fleck ausharren musste. Dann kam Sturm auf und umtobte die Nordwand – ein Biwak hätte keiner überlebt», schreibt Hans Berger in seinem Tourenbericht. Am 4. Januar stiegen die drei frühmorgens erneut in die Wand ein. Dank seiner Vorbereitungen stand das Trio um 16.30 Uhr auf der 4000 Meter hohen Droites. «Schon fällt die Nacht über die Berge und noch müssen wir durch die ganze Wand abseilen. Unsere kühnsten Hoffnungen übertreffen wir und kehren noch gleichentags todmüde kurz vor Mitternacht in die Hütte zurück.» Die Bergsteigerszene blickte bewundernd auf die Bergfalken!
40 Jahre später rannte Ueli Steck im Sommer mit Ankereisgeräten und Topsteigeisen in zwei Stunden und acht Minuten solo durch die Wand.
Eine bemerkenswerte Seilschaft
Den Reichenbachern Hansjürg Müller und Hans von Känel gelang mit dem Adelbodner Robert Allenbach in der Weihnachtszeit 1972 die Wintererstbesteigung der Gspaltenhorn-Nordwand. Nur einige Tage später starteten die beiden Reichenbacher als erste Zweierseilschaft im Winter in die Eigernordwand durch die Heckmair-Route. Bei schönstem Wetter durchpflügten sie den Wandvorbau. Mal biwakierten sie bequem auf einem Felsband oder im geräumigen Todesbiwak, dann wieder sitzend in einer Nische. Hans von Känel erzählt, wie sie ab dem vierten Tag vom Pech verfolgt wurden: «Plötzlich kam Wind auf, und wir wurden arg von Triebschnee belästigt. In der Spinne verlor ich beim ständigen Steigeisenwechsel ein Eisen. Im heiklen Quarzriss kletterte Hansjürg vor, und plötzlich rasselte es und er flog an mir vorbei. Meine Handflächen brannten vom Seil und mein Brustkorb wurde zusammengedrückt von der Sturzkraft. Ich atmete auf, als ich sah, dass Hansjürg sich bewegte. Als ich ihn heraufgezogen hatte, stellte sich heraus, dass ein Arm bewegungsunfähig war.» Hansjürg Müller nimmt den Faden auf: «Hans leistete an diesem Tag Aussergewöhnliches, kletterte er doch alles voraus, fixierte die Seile, seilte ab, stieg mit einem Rucksack auf, seilte wieder ab, hinauf mit dem zweiten Pack, und hisste schliesslich noch mich zum nächsten Stand hinauf. Ich bewunderte seine Ausdauer.»
Zur etwa gleichen Zeit gelang dem Bergfalken-Freund Richard Steiger mit dem Frutiger Hansruedi Kallen die Wintererstdurchsteigung der Lauterbrunnen-Breithorn-Nordwand, einer der anspruchsvollsten Nordwände der Berner Alpen. Schon viele Seilschaften waren daran gescheitert.
Auf dem Dach der Welt
Noch höher hinauf zog es Robert Allenbach, Hans von Känel und Hansjürg Müller. 1978 bestieg Robert Allenbach den Mount Everest (8848m) im beginnenden kommerziellen Boom um die Erklimmung der ganz hohen Berge im Himalaya. Dank intensiver Trainingstouren mit den Bergfalken und Wetterglück steht er am 15. Oktober auf dem Mt. Everest: «Langsam, Schritt für Schritt, erklettere ich im beissenden Wind die letzte Hürde, den senkrechten Hillary Step – und dann stehe ich oben, auf dem höchsten Punkt der Erde. Erschöpft, stumm und andächtig geniesse ich diesen erhabenen Blick in die Unendlichkeit», teilt er seinen Freunden im Tourenbericht mit und fährt dankbar fort: «Gar manche solche Träume zerschellen irgendwo an den eisigen Flanken des mörderischen Berges, werden von orkanartigen Stürmen verblasen oder vom meterhohen Schnee erstickt.»
Die hohen Berge als Lebensschule
Für den Scharnachtaler Hans von Känel war die Aufnahme im Kletterklub Bergfalken dank seiner hervorragenden alpinistischen Leistungen als klassischer Bergsteiger mit vielen extremen Touren ein besonderer Erfolg. Gerne wäre er Bergführer geworden, aber das damalige Gesetz verwehrte ihm dies aufgrund des vernichtenden Stempels einer Militäruntauglichkeit. In seiner Kindheit erlitt Hans von Känel durch schwere Arbeit eine akute Wachstumsstörung, die seinen jugendlichen Bewegungsdrang massiv einschränkte. In zehn harten Jahren kämpfte er sich zurück in ein sportliches Leben und stand stolz mit 23 Jahren auf der Bütlasse. Gipfel für Gipfel erkämpfte er sich, und sein Durchhaltewillen fand schliesslich 1979 seine Krönung auf dem Dach der Welt, dem Mt. Everest. Innerhalb von nur fünf Jahren bestieg er Lhotse, Makalu, Mount Everest, Dhaulagiri und Manaslu, die beiden Letzteren mit seinem Reichenbacher Trainingspartner Hansjürg Müller. Dabei amtete er viermal als Expeditionsleiter. 20 Jahre später, mit 59 Jahren, gelang ihm noch die Besteigung des Broad Peak. Nach 35 Jahren als Geschäftsführer bei Eiselin Sport geniesst er heute mit fast 80 Jahren das Leben mit seiner Partnerin beim Velofahren, Reisen und bei täglichen Yogaübungen.
Zur Serie: Die Mitglieder des Kletterklubs Bergfalken stürmten vor 50 Jahren die Gipfel und brachten ab den 1980er-Jahren den Gedanken des Freikletterns in die Schweiz. In einer dreiteiligen Serie stellt der «Frutigländer» namhafte Bergsteiger aus der Region vor.
Ein filmisches Zeugnis
Im ersten Teil der Serie wurde geschildert, wie die Bergfalken die Eigernordwand bestiegen und dort ein Flugzeug vom Typ «Piper» vorbeifliegen sahen. Gründungsmitglied Peter Allenbach filmte damals die Begehung. Sein Sohn, Marc Allenbach, hat die Super-8-Aufnahmen digitalisiert und für die Website des «Frutigländers» zur Verfügung gestellt. LINK zum Film
REDAKTION