Diese Erinnerungen bleiben für immer
08.05.2020 Kandersteg, Kandergrund, Blausee, Mitholz, GesellschaftKRIEGSENDE Heute vor 75 Jahren endete in Europa der Zweite Weltkrieg. Albert Klopfenstein war damals zehnjährig. Er erinnert sich an die Lebensmittelrationierung, eigene und fremde Soldaten und seinen patriotischen Vater.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
«Wenn ich ...
KRIEGSENDE Heute vor 75 Jahren endete in Europa der Zweite Weltkrieg. Albert Klopfenstein war damals zehnjährig. Er erinnert sich an die Lebensmittelrationierung, eigene und fremde Soldaten und seinen patriotischen Vater.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
«Wenn ich zurückdenke, höre ich sofort dieses tiefe Brummen, das Geräusch der schweren amerikanischen Bomber, die Nacht für Nacht direkt übers Kandertal nach Italien flogen. Dutzende oder mehr …» Dieses bedrohliche Geräusch sorgte dafür, dass die deutsche Wehrmacht in Italien Ende April 1945 kapitulierte, endgültig vorbei war der Zweite Weltkrieg in Europa aber erst am 8. Mai. Albert Klopfenstein war damals zehn Jahre alt. 75 Jahre ist das her, doch es gibt für ihn Erinnerungen aus der Kriegszeit und kurz danach, die vergehen nicht mehr.
Schwarz geschlachtete Schweine
Dabei hat die Familie Klopfenstein vergleichsweise privilegiert gelebt. In Reckental in Kandergrund wuchs Albert mit sieben Geschwistern auf einem Bauernhof auf, er war der Zweitälteste. Durch die grosse Anzahl Personen im Haushalt waren während des Krieges trotz Rationierung meist genug Lebensmittel- und Materialbezugsmarken vorhanden. Gegen Ende des Monats wurde damit unter den Hausfrauen getauscht – je nachdem, wer noch was benötigte. Viele Güter wie Mehl, Zucker, Fleisch oder Schuhe gab es nur gegen Abgabe dieser Karten – so wurden die Vorräte rationiert und möglichst gerecht verteilt.
Verschmitzt lachend erzählt Albert Klopfenstein, dass aber schon mal ein Stück Käse oder ein «Ankeballe» hintendurch gehandelt wurde. «Als Bauernbetrieb war man ja zum grossen Teil Selbstversorger. Wir auf dem Land hatten sicher Vorteile gegenüber den Stadtbewohnern, die alles mit Marken einkaufen mussten.» Trotz des strengen behördlichen Verbots gab es einen Schwarzmarkt. Da wurde schon mal ein Schwein geschlachtet und unter die Leute gebracht. Das Tier sei eben eingegangen, wurde dem Kontrolleur dann weisgemacht.
Jeweils im September wurde eine «Kartoffelwoche» angeordnet. Die Betriebe waren angehalten, Kartoffeln anzupflanzen. Hektarweise wurde die Schweiz umgegraben. «Das war richtige Knochenarbeit, und natürlich alles von Hand!», erinnert sich der Kandergrunder. Immerhin erhielten viele Landwirte im Sommer während mehrerer Monate eine Alpdispens, damit sie mit den Tieren «z’Bärg» konnten. Damals gab es kaum Strassen, sie mussten also den Sommer über oben bleiben.
Auf der Wache eine Kuh gekauft
Klopfenstein erzählt auch gern Müsterchen von seinem Vater Albert – Landwirt, Viehhändler und Soldat. Dieser kaufte schon mal im Wachdienst bei der mit Sprengstoff geladenen Einigen-Brücke noch eine Kuh. Vaters patriotische Einstellung prägte die Familie. Er wurde gleich im September 1939 in den Dienst gerufen. Daran kann sich Albert nicht erinnern, wohl aber an die Nachbarsfrau, die vor Angst weinend vorbeikam und die Nachricht von der Mobilmachung überbrachte. Die Unsicherheit, ob der Mann, der Vater oder Sohn wieder heimkehren würde, war riesig und belastend.
Wer nicht diensttauglich oder aufgrund des Alters schon entlassen war, leistete oftmals Dienst in der Ortswehr. Diese trug als Erkennungszeichen eine rote Armbinde mit Schweizerkreuz. «Diese Männer sorgten für Ordnung in den Dörfern. Insbesondere mussten sie die nächtliche Verdunkelung kontrollieren, damit die Piloten der Bombenflugzeuge sich nicht orientieren konnten.» Da sind sie wieder, diese nächtlichen Geräusche, die bei Albert Klopfenstein ein Symbol des Krieges sind, obwohl sie die verhassten Nazis bekämpften.
In Kandergrund war mit dem Bezug des Reduits durch die Armee auch Militär einquartiert. Die strategisch wichtige Lötschberg-Bahnstrecke musste bewacht werden. Bei Klopfensteins waren die Soldaten in der Scheune untergebracht. Sie schliefen auf Stroh. Ihre Küche war hinter der «Alpenruh» eingerichtet und abends standen dann oftmals die Kinder mit einem Kessel dort, um allenfalls noch Reste zu ergattern. Die Mutter habe ihren eigenen Kindern das Anstehen für Essen verboten mit der Begründung: «Es gibt andere, die haben das viel nötiger als wir.»
Erleichterung statt Feierlaune
Und dann ist im Gespräch auch heute noch eine gewisse Entspannung zu spüren, als es um das eigentliche Kriegsende geht. Am Dienstag, 8. Mai 1945, schwiegen in Europa die Waffen, Deutschland und seine Verbündeten waren besiegt. «Wir nahmen diese Nachricht mit grosser Erleichterung auf. Ich war gegen Abend auf dem Heimweg, als plötzlich die Kirchenglocken läuteten. Damit war auch offiziell quasi der Krieg für uns vorbei. Sowas vergisst man einfach nicht.»
Gefeiert wurde nicht, man war eher dankbar und nachdenklich. Ganz im Gegensatz zu den grossen Städten, denn die Situation änderte sich ja nicht von einem Tag auf den anderen. Die Rationierungen wurden noch einige Zeit beibehalten, bei bestimmten Gütern dauerte es Jahre, bis die Versorgung sich normalisierte. Doch wenigstens war der Vater nicht mehr monatelang abwesend, und das Familien- und Arbeitsleben nahm für die Grossfamilie Klopfenstein wieder einen geregelten Lauf.
1954 zogen Klopfensteins ins Waadtland, kauften einen Hof. Doch auch dort fanden sie Bekanntschaften, die auf dem Krieg basierten. Benachbarte Bauern, die den Umgang mit Tieren gewohnt waren, hatten in der Militärpferdeanstalt in Kandersteg Dienst geleistet. So fand man bald Anschluss. Doch Albert Klopfenstein hatte «Lengizyt» nach dem Oberland. So ging er zuerst für neun Jahre zur Kantonspolizei Bern, dann wurde eine Stelle in Kandersteg frei. Das Heimweh brachte ihn schliesslich endgültig zurück ins Kandertal, wo er 28 Jahre bei der Gemeinde arbeitete, als Kassier und Standesbeamter. Auch heute mit 85 Jahren interessiert er sich noch intensiv für Geschichte, hat soeben die Vergangenheit der Bäuert Kandersteg in schriftlicher Form publiziert.
Wer war Hitler-freundlich?
Während des Gesprächs liegt vor Albert Klopfenstein auf dem Küchentisch neben dieser Broschüre auch das Dienstbüchlein des Vaters, voll mit Belegen der schwierigen Zeit. Aus seinen Erzählungen wird deutlich, welchen Einfluss der Befehlshaber der Schweizer Armee, General Henri Guisan, sowie der Militärvorsteher, Bundesrat Ruedi Minger, in der Familie Klopfenstein hatten. Klopfenstein betont, dass diese beiden massgeblich dazu beigetragen hätten, die Schweiz damals aus dem militärischen Konflikt herauszuhalten.
«Als wir 1943 oder 1944 einen Radio gekauft haben, schraubten wir Kinder gern an den Knöpfen rum und suchten Sender. Es kam dann auch mal vor, dass wir ohne Absicht einen deutschen Sender erwischten, die spielten meist Marschmusik. Das kam beim Vater aber gar nicht gut an. Wir konnten damals natürlich nicht einschätzen, was falsch sein sollte», sagt Albert Klopfenstein. «Zum Glück gab es solche Personen, die sich dem Nationalsozialismus widersetzten. Es gab nämlich auch andere: Bei uns am Mittagstisch wurde schon mal diskutiert, wer hier im Tal Hitler-freundlich war, wem man am besten aus dem Weg ging.»
Der Zweite Weltkrieg
Was später als Weltkrieg bezeichnet wurde, begann militärisch mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939. Mehrere Nachbarländer wurden in den Folgejahren von Adolf Hitlers Truppen erobert. Die Schweiz wurde von den Kämpfen verschont, war als neutrales Land vor allem wirtschaftlich zwischen den Fronten. In Europa endete der Krieg mit der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945. Die Siegermächte Grossbritannien, USA, Frankreich und die Sowjetunion teilten Deutschland unter sich auf. Im Pazifik dauerten die Kämpfe bis am 15. August, als nach dem Abwurf der ersten beiden Atombomben Japan kapitulierte.
HSF