Kleine Dinge, grosse Geschichten
29.05.2020 Krattigen, GesellschaftBERUFSPORTRÄT Es muss nicht immer eine Statue oder ein Haufen alter Knochen sein. Oft sind es kleine Keramikfragmente oder Schmuckstücke, die viel zu erzählen haben – über Leben, die vor langer Zeit gelebt wurden und heute unter tiefen Erdschichten verborgen liegen. Die Krattiger ...
BERUFSPORTRÄT Es muss nicht immer eine Statue oder ein Haufen alter Knochen sein. Oft sind es kleine Keramikfragmente oder Schmuckstücke, die viel zu erzählen haben – über Leben, die vor langer Zeit gelebt wurden und heute unter tiefen Erdschichten verborgen liegen. Die Krattiger Archäologin Dr. des. Josy Luginbühl rückt solche Zeitzeugnisse ins rechte Licht.
KEREM S. MAURER
Man kann weder Indiana Jones noch Lara Croft dafür verantwortlich machen, dass die in Krattigen aufgewachsene Josy Luginbühl Archäologie studierte. Ihr Interesse an vergangenen Zeiten und speziell an der Frage, wie die Menschen früher gelebt haben, entdeckte die 33-Jährige schon viel früher. «Als Kind hab ich mir einen Ägyptologie-Kasten gewünscht. Da konnte ich aus Scherben ein Gefäss zusammenkleben!» Das war noch lange bevor sie die eingangs erwähnten Filme überhaupt schauen durfte. Aber: «Natürlich finde ich diese Filme toll», lacht sie und gesteht, an jeder Ausgrabungsstätte ihren eigenen Indiana-Jones-Hut getragen zu haben, den ihr einst ihr Bruder geschenkt hatte. Doch die Ausgrabungen sind bereits Geschichte. Heute arbeitet Josy Luginbühl am Institut für Archäologische Wissenschaften an der Universität Bern, ist Assistentin und zuständig für das Museum mit dem bezeichnenden Namen «Antikensammlung», wo sie sich mit der Dokumentation und Archivierung von Fundgegenständen beschäftigt. Dies sei aber genau so spannend, sagt Luginbühl, und erzählt von jenen Zeiten voller Lagerromantik und Lagerkoller. «Es war immer schön und schlimm zugleich», als sie selbst noch mit Pickel, Schaufel und Archäologenkelle im Mittelmeerraum auf Artefaktensuche ging.
Die Frau der Antike
Luginbühl wählte Archäologie mit den Schwerpunkten «Mittelmeerraum», weil es dort wärmer ist und es mit der griechischen und römischen Antike jede Menge zu entdecken gibt, und «Römische Provinzen», weil sie dadurch einen Bezug zur Schweiz hat – Stichwort Augusta Raurica. «Dort waren wir mit der Schule und durften römisches Brot backen», erinnert sie sich. Dieser Einblick in das antike Leben habe sie fasziniert.
Ihre erste Ausgrabung führte sie als junge Studentin nach Italien, erzählt die Archäologin. Sowohl in der Geschichte als auch in der Archäologie gehe es grossmehrheitlich um Männer. Über deren Kriege, Schlachten und Politik wisse man relativ gut Bescheid. Doch darüber, wie die Gesellschaften funktionierten, über das soziale Miteinander oder über die Rolle der Frau in der Antike wisse man herzlich wenig. Luginbühl bringt das Beispiel des Römers Cicero, der seiner Frau bekanntlich viele Briefe geschrieben hat. In einigen davon nehme er Bezug auf Schreiben, die er von seiner Frau erhalten habe, weiss Luginbühl. Doch ob diese selbst lesen und schreiben konnte oder dafür auf fremde Hilfe angewiesen war, wisse man nicht. Was durfte die antike Frau und vor allem: was konnte sie? Das sind die Fragen, welche die Krattiger Altertumsforscherin auch in ihrer Doktorarbeit behandelt.
Archäologie ist ein Puzzle
Als spektakuläre archäologische Funde gelten Statuen, Münzen oder Gräber. Josy Luginbühl war selbst einmal dabei, als eine Statue gefunden wurde. Diese habe viel Aufmerksamkeit generiert und es in relativ kurzer Zeit sogar in ein Museum geschafft. Oder noch zu Mussolinis Zeiten wurden in Libyen die Überreste einer Stadt mit ihren Strassen, Plätzen und Architekturen freigelegt. Auch das waren spektakuläre Funde. Aber: Über das soziale Leben haben weder die Statue noch die Architektur viel preisgegeben. Es seien oft die kleinen Dinge wie Schmuckstücke, Fibeln oder Keramikscherben, die aufgrund ihrer Abbildungen oder Anordnungen viel mehr über das Leben in den damaligen Gemeinschaften erzählten. Mit leuchtenden Augen erklärt die begeisterte Forscherin: «Beinahe spannender als das Finden solcher Scherben ist jedoch das epochale Zuordnen und das Einordnen in Zusammenhänge, die man schon kennt oder die sich erst später ergeben, wenn noch mehr Fragmente gefunden werden.» Archäologie sei wie ein Puzzle, lacht die Frau, die das Graben und Wühlen in Bibliotheken mindestens ebenso interessant findet wie vor Ort an den Ausgrabungsstätten der antiken Welt am Mittelmeer.
Die Gesellschaft abseits der bekannten Schlachtfelder verstehen
Auf die Frage, was sie denn gerne bei einer Grabung wirklich finden wolle oder wonach sie sehnlichst suche, überlegt die Archäologin lange und wählt ihre Worte mit Bedacht. Dies auf einen Gegenstand zu reduzieren sei sehr schwierig, gehe es doch eigentlich um das Gewinnen von Erkenntnissen. Wenn sie wählen könnte, wäre natürlich ein antikes Frauengrab mit Schreibzeug zwischen den skelettierten Fingern für sie etwas vom Grössten, lacht sie und wird sogleich wieder ernst. Sie suche nach Dingen, die ihr verstehen helfen, wie die Gesellschaft in der Antike abseits der bekannten Schlachtfelder existiert und funktioniert habe und welche Rollen dabei die Frauen gespielt haben. «Es sind wohl eher die kleinen, unscheinbaren Fundstücke, die uns diese Fragen beantworten können», vermutet sie.
Wissen weitergeben
Ja, sie werde sicher wieder einmal selbst eine Schaufel in die Hand nehmen und Ausgrabungsstätten besuchen. Aber derzeit habe sie andere Prioritäten. Ganz zuoberst auf ihrer Liste stehe die Publikation ihrer Doktorarbeit. Ausserdem würde sie gerne auch in Zukunft im Museum bleiben und ihr Wissen weitergeben. Auch habe sie zusammen mit einem Kollegen Vorträge zum Thema Frauen und Geld in der Antike geplant, die allerdings wegen Corona noch nicht gehalten werden konnten.
Man trifft Dr. des. Josy Luginbühl unter anderem auf dem Schloss Spiez, wo sie Führungen macht. Geschichte zum Anfassen, sozusagen. Man könnte soviel aus der Geschichte lernen, sinniert die Archäologin und zitiert Mahatma Gandhi, der gesagt haben soll: «Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.» Auf die Frage, was eine moderne Archäologin der heutigen Gesellschaft raten würde, lacht sie und sagt mit einem Zwinkern in den Augen: «Losed meh uf Archäologinnä und Historiker!»
ZUR PERSON
Josy Luginbühl wurde 1987 in Bern geboren und zog kurz darauf mit ihren Eltern nach Krattigen, wo sie die Primarschule besuchte. Später folgte die Sekundarschule in Aeschi, das Gymnasium in Thun und letztlich das Archäologie-Studium an der Universität Bern. Heute arbeitet sie als Assistentin am Institut für Archäologische Wissenschaften und betreut ein kleines Antikenmuseum mit originalen Stücken und Gipsabdrücken, hält Vorträge und macht Führungen auf dem Schloss Spiez.
KSM