Vince spielt Kopfkino
22.05.2020 Frutigen, Bildung|Schule, GesellschaftACHSETEN Kinder bleiben zu Hause, Eltern fällt die Decke auf den Kopf: Für den Fernunterricht der Unterschule Rinderwald hat Ruth Stettler eine Geschichte geschrieben – die 1.- bis 3.-Klässler sorgten fürs Bildmaterial.
Die ersten Sonnenstrahlen bilden grosse Muster ...
ACHSETEN Kinder bleiben zu Hause, Eltern fällt die Decke auf den Kopf: Für den Fernunterricht der Unterschule Rinderwald hat Ruth Stettler eine Geschichte geschrieben – die 1.- bis 3.-Klässler sorgten fürs Bildmaterial.
Die ersten Sonnenstrahlen bilden grosse Muster auf Vinces Bettdecke ab. Schlaftrunken bewundert er die Kunstwerke. Sein erster Gedanke gilt seiner Freundin Niki. Fest entschlossen, sie heute zu besuchen und rund um den grossen Asthaufen vor ihrem Haus zu spielen, schlüpft er in seine Kleider.
1 LORIN
Am Morgentisch sitzen Mama und Papa. Die grosse Schwester Sindy ist bereits arbeiten gegangen. Vinces Mine verzieht sich sofort, als ihm wieder bewusst wird, dass sie die Einzige der Familie ist, die täglich das Haus verlassen darf. Sindy absolviert nämlich eine Lehre in der Apotheke. «Das tut ihr überhaupt nicht gut», findet Vince. Seit sie bei Linders arbeitet, nörgelt sie ständig herum: «Dies ist nicht gut, das ist ungesund, da muss man aufpassen …» Das Schlimmste sind jedoch ihre Vorträge über dieses blöde Virus. Sie gibt der Familie regelrecht vor, sich einzusperren (so kommt es Vince auf jeden Fall vor), und ihre Besserwisserei geht ihm tierisch auf den Geist. «Die würde besser Gärtnerin werden, so könnte sie mit ihren Blumen sprechen», ruft er lauthals aus und knallt dabei das Konfitürenglas so stark auf den Tisch, dass ein Hauch Erdbeerduft in die Luft steigt.
«Was ist dir denn über die Leber gekrochen?», fragt Mama erstaunt, während Papa schon tief einatmet, um ihn zu beschimpfen. «Ich will heute zu Niki gehen und mit ihr spielen. Das ist mein Recht als Kind, und was Sindy erzählt, ist sowieso alles bla, bla bla!», protestiert Vince, und eine dicke Träne kullert ihm dabei über seine Wange.
Papa macht ungefähr den fünfzigsten Versuch, Vince zu erklären, dass dieses Virus hochansteckend ist und daher die Kinder aus unterschiedlichen Familien nicht miteinander spielen dürfen. Dabei klingt er schon leicht gereizt, und als er dann zu guter Letzt noch hinzufügt, Vince solle doch daran denken, was seine grosse Schwester zu ihm gesagt habe, verlässt dieser stampfend den Morgentisch, und die Stimmung im Haus sinkt auf den Tiefpunkt.
«Mit Grosstante Martha darf ich nicht ins Kino, das Schulfest ist abgesagt, kein JO-Training mehr, kein Theaterbesuch, die Schulreise kann nicht stattfinden, und die Ferien am Meer kommen sowieso nicht zustande», wettert Vince in Gedanken und fühlt sich zu diesem Zeitpunkt, als wäre er der ärmste Junge auf der ganzen Welt.
Während er frustriert auf dem Bett sitzt, den Vorsatz fasst, in den Hungerstreik zu treten und sich nicht mehr vom Fleck zu bewegen, hört er dem Geschwätz seiner Eltern zu und versucht, sich die Gesprächsfetzen aus der Küche bildlich vorzustellen.
2 FABIO
«Mir fällt die Decke auf den Kopf» (Papa), «Das Glas ist halb voll, nicht halb leer» (Mama), «Ich könnte den ganzen Tag Trübsal blasen» (Papa), «Wir müssen jetzt stark sein für den Jungen» (Mama). «Aha, Papa, welcher seit Mitte März zu Hause ist, weil er als Lastwagenchauffeur für Kleidergeschäfte in der Corona-Krise nicht mehr gebraucht wird, ist also auch unzufrieden. Eltern versuchen das vor den Kindern zu verbergen», stellt Vince kopfschüttelnd fest. Während er so dahockt, im Schneidersitz, den schweren Kopf auf die Hände gestützt, startet er sein Kopfkino. Er stellt sich die Viren vor, die schuld daran sind, dass er nicht zu Niki darf. Es hat pinke, grüne, violette und leuchtend blaue, neongelbe, grosse und kleine. Mit ihren Saugnäpfen haften sie an der Türfalle bei Onkel Gustav und Tante Frieda. Am Treppengeländer vom alten Sepp haben sich gleich mehrere versammelt, und selbst aus dem Briefkastenschlitz bei Fellers gucken zwei Viren zerknittert und mit bösem Gesichtsausdruck hervor. Da kommt Frau Feller und nimmt die Zeitung aus dem Briefkasten. Die zwei Kerle weichen aus. «Hände desinfizieren hilft», hört er seine Schwester Sindy rechthaberisch dazwischenplappern. «Aha, darum sind sie vielleicht ausgewichen», denkt er. Der Gedanke, dass sie vom Alkoholgeschmack des Desinfiziersprays gleich betrunken wurden, zaubert Vince ein leichtes Lächeln aufs Gesicht.
3 LENNY
Weiter gehts: Der grimmige Klaus bei der Linde greift nach Vinces Fahrrad und stellt es murmelnd weg. Tatsächlich wird er in diesem Augenblick gleich von mehreren Viren befallen. Vince reisst seine Augen weit auf und kommt sofort in Bewegung. Hastig stellt er sich auf den Boden, spurtet zum Eingang, schlüpft in seine Turnschuhe, ohne sie zu binden, und hält Ausschau nach seinem Fahrrad. Tatsächlich, es steht nicht im Schopf. Wahrscheinlich hat er es gestern schon wieder bei der Bank vor der Linde liegen lassen. Sein Puls rast. Vince spurtet zur Linde und hört noch das zweistimmige «Vince!» seiner Eltern aus der Ferne rufen.
Vor Fellers Hecke bleibt Vince abrupt stehen. Der grimmige Klaus sitzt auf der Bank und raucht seine Pfeife. Neben ihm steht sein grünes Velo ordentlich auf den Ständer gestellt. Der bittere Gestank des Rauches weckt Erinnerungen. Vergangene Woche war Klaus stinksauer, als er Vinces Velo sah, und es gab einen lauten Rüffel von wegen: «Unerzogener Gof; alles liegen lassen, wie die Hühner den Dreck; man sollte dir das Fahrrad wegnehmen und es den armen Kindern geben …» Wieso hat er diesen Fehler wiederholt, ärgert sich Vince über sich selber. Da fällt ihm ein, dass die Kette schon wieder hinausgefallen war und er sofort nach Hause musste, weil Mama ihm eingeschärft hatte, er müsse pünktlich sein, sonst gäbe es kein Mittagessen. In dem Moment steckt Klaus seine Pfeife in seine Brusttasche und wendet sich aus der Distanz an Vince: «Junge, du kannst dein Fahrrad abholen, es ist geflickt!»
4 JARED
Langsam und mit grosser Verwunderung über diese plötzliche Freundlichkeit überquert Vince die Strasse und betrachtet sein Velo, während Klaus bereits beim Lindenweg einbiegt. Vince reisst allen Mut zusammen und ruft ihm zu: «Herzlichen Dank, Klaus, und … vergiss bitte nicht, deine Hände zu waschen!» Mit einem Nicken und einem freundlichen Wink verschwindet Klaus hinter einem geparkten Auto. Hat Vince auf seinem Gesicht sogar ein Lächeln vorbeihuschen sehen?
Weil es so still im Quartier ist, dreht Vince noch ein paar Runden mit seinem Fahrrad und stellt dabei fest, dass Klaus sogar die linke Bremse angezogen hat. Pünktlich kommt er zum Mittagsessen. Mmmh, beim Eingang ahnt er es schon: Mama hat sein Lieblingsessen gekocht – Fischstäbchen, Salzkartoffeln und Salat. Nach dem gründlichen Händewaschen setzt sich Vince an den Tisch und beginnt freudestrahlend von der Begegnung mit Klaus zu berichten. Abschliessend stellt Papa fest: «Klaus sollte alte Fahrräder reparieren und sie armen Kindern geben.» «Hätte er eine Aufgabe, wäre er bestimmt zufriedener.» «Typisch Mama», denkt Vince und fühlt sich plötzlich sehr geborgen und beschützt von seinen Eltern. Vince hört gespannt seiner Schwester zu, welche erzählt, dass sie in der Apotheke auf dem Verkaufstisch nun Plexiglas-Schutzwände aufgestellt hätten. Seit Langem findet er es spannend, Sindy zuzuhören und ist sogar ein bisschen stolz auf seine grosse Schwester, als sie erzählt, dass Frau Linder, ihre Chefin, ihr angeboten habe, sie dürfe nach ihrer Lehre weiterhin in ihrer Apotheke arbeiten, weil sie so zufrieden sei mit ihrem Einsatz. Sindy muss schon wieder abhuschen, ihr Mittag ist jeweils kurz. Daher ist es auch wichtig, dass Papa und Vince jeweils pünktlich zum Essen kommen.
Bei Kaffee und Güezi bespricht die Familie den Nachmittag. Papa schlägt drei Arbeiten vor und bittet Vince, ihm dabei zu helfen. «Keller aufräumen» (langweilig), «Gartenzaun flicken» (schon besser) und «Äste vom Wald holen» (perfekt!). Vince entscheidet sich natürlich für die Äste und fragt gleich darauf, ob er heute Abend mit Niki telefonieren könne. Die Eltern zwinkern sich zu und erlauben es. Mit dem «Hucky» fahren Papa und Vince bald darauf in den nahegelegenen Wald. Ein kleines Stück gehört ihnen. «Das gibt Brennholz für den Winter», erklärt Papa, während Vater und Sohn emsig Äste zusammensammeln. Seinen Hungerstreik hat Vince längst vergessen, und er geniesst es, mit seinem Vater zu arbeiten. «Guck, Vince, die Blaumeise sammelt wohl auch Ästchen, sie braucht sie aber für ihr Nest.» Vince beobachtet sie einen Moment lang interessiert und arbeitet dann weiter. Als sich auch noch Kater Schnurrli dazugesellt, ist das Glück für einen Moment perfekt. Wie ein stolzer König sitzt er auf dem Asthaufen, während Papa den «Hucky» steuert und Vince schaut, dass keine Äste hinunterfallen. Papa lacht: «Schnurrli hat seine Fahrkarte nicht bezahlt.»
5 KARI
Weil Samstag ist, hat Sindy früher Feierabend. Da gibt es meistens ein «Café complet» mit Wochenrückblick zum Nachtessen. Alle wirken zufrieden ausser Mama: «Es gibt schlechte Neuigkeiten», beginnt sie, während sie das geschnittene Brot auf den Tisch stellt und sich langsam hinsetzt. «Grosstante Martha wurde heute notfallmässig ins Spital gebracht. Sie hatte Atembeschwerden. Schliesslich hat man bei ihr das Virus festgestellt. Sie liegt jetzt isoliert in einem Zimmer, und man darf sie nicht besuchen.»
Alle sind sehr betroffen. Grossonkel Heinz sei sehr in Sorge, ergänzt Mama. Tausend Fragen huschen Vince durch den Kopf: «Wird sie wieder gesund, oder wird sie gar sterben? Trägt sie jetzt eine Maske, wie er das im Fernsehen gesehen hat? Kann Grossonkel Heinz überhaupt kochen? Wie und wo hat sie sich angesteckt? Hat sie vielleicht ein Kinderfahrrad berührt?» Er kann sich die ununterbrochen plappernde, witzige Martha mit Atembeschwerden überhaupt nicht vorstellen. Doch auf einmal ist die ganze Virengeschichte sehr nah, und Vince schämt sich fast ein bisschen, dass er heute Morgen unbedingt zu Niki wollte, obwohl das momentan verboten ist.
6 VERA
Vince fragt in die Stille: «Was kann man da tun?» Zögerlich kommen ein paar Vorschläge zusammen: «Daumen drücken, hoffen, jeden Tag Heinz anrufen, beten, fest an sie denken …» Mama sagt: «Jedes darf auf seine Art tun, was es für richtig hält.» In der ganzen Aufregung geht Sindys Mitteilung, der grimmige Klaus suche alte Velos zum Reparieren, sie habe ein Plakat gesehen, fast unter. (Sindy ist die einzige, die zurzeit Neuigkeiten nach Hause bringt.) Papa erinnert Vince daran, dass er doch noch mit Niki telefonieren möchte. Tatsächlich hätte er das fast vergessen. Wenige Minuten später hört man das Geplapper in Vinces Zimmer. Ein paarmal hört man Vince laut auflachen. «Stell dir mal das Gekreische am anderen Ende vor», witzelt Sindy. Als Vince das Telefon nach einer geschätzten Stunde ins Wohnzimmer bringt, setzt sich Sindy vis-à-vis und nimmt ihre Zauberschnüre hervor.
7 KOBI
Wie lange ist es wohl her, dass sich Sindy zu ihm gesetzt und ihm Schnurspiele – und Tricks – gezeigt hat? Kater Schnurrli will auch mitspielen und krallt sich das «Fischernetz», welches Vince nun nach geduldigem Üben erstmals selbst geschafft hat. Dabei erhascht der Kater sich von den Geschwistern ein paar Streicheleinheiten. Natürlich verordnet Sindy im Anschluss: «Hände waschen.» Ohne zu meckern, gehorcht Vince und lässt sich von seiner Schwester erklären, dass man halt nicht genau wisse, ob Leute, die Schnurrli streicheln, das Virus über sein Fell übertragen könnten. Das ist für Vince nun nachvollziehbar, und er will vorsichtiger werden. Vor dem Einschlafen lässt er nochmals seinen Tag Revue passieren. Er schaltet wieder auf Kopfkino.
8 FABIA
Und weil dieses nichts kostet, und weil man damit die Eltern, ohne zu betteln, fürs «Länger-Wachbleiben» überlisten kann, entschliesst er sich, gleich zwei «Filme» am Stück zu schauen – erst den schönen, dann den weniger schönen. Vor dem Einschlafen, als er sich in Gedanken aus dem gemütlichen Kinosessel hievt, überlegt er sich, ob Grosstante Martha wohl auch Kopfkino-Filme schauen kann, und schickt ihr in Gedanken seinen schönen Film von heute zu.