Wenig Platz für mehr Abstand
19.05.2020 Coronavirus, Bildung|Schule, FrutigenDer Präsenzunterricht in den Schulen geht in die zweite Woche. Hygiene und Abstand sind auch hier wichtig. Doch grosse Klassen und bauliche Grenzen setzen in der Praxis Limiten.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Wie die erste Schulwoche mit Präsenzunterricht theoretisch ...
Der Präsenzunterricht in den Schulen geht in die zweite Woche. Hygiene und Abstand sind auch hier wichtig. Doch grosse Klassen und bauliche Grenzen setzen in der Praxis Limiten.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Wie die erste Schulwoche mit Präsenzunterricht theoretisch aussehen könnte, war allen klar. Gerade in Schulhäusern, in denen es Klassen mit bis zu 26 Jugendlichen gibt oder Gruppenräume fehlen, sieht die Realität aber anders aus. Als Beispiel hat der «Frutigländer» in der Oberstufenschule Frutigen und im Widi-Schulhaus nachgefragt, was funktioniert hat und was nicht.
Viel Energie im Widi
Es sind Massnahmen, die mit wenig Zusatzaufwand umsetzbar sind. Die Einhaltung ist jedoch wichtig. Im Widi-Schulzentrum treffen sich die Klassen morgens in bestimmten Zonen vor dem Schulhaus. Beim ersten Klingeln geht die eine Klasse in ihr Schulzimmer – nicht ohne die Hände zu waschen. Beim zweiten Klingeln ist die Klasse mit den älteren SchülerInnen an der Reihe. So können die insgesamt zehn Schul- und zwei Kindergartenklassen im Neu- und Altbau Widi möglichst getrennt den Schultag anfangen.
Der Grossteil der 260 SchülerInnen macht das gern, wartet teils schon deutlich vor Schulbeginn vor den Türen. Nach sechs Wochen Familie sind sie froh, ihre Schulkameraden wiederzusehen. «Sie sprühen richtig vor Energie», freut sich Marianne Gerber. Sie ist Co-Leiterin der Primarschulen Widi und Kanderbrück. Dass für die Altersstufen unterschiedliche Pausenzonen auf dem Schulareal eingeführt wurden, trübt diese Freude kaum. «Was man vor einigen Jahren abgeschafft hat, haben wir temporär wiederbelebt. Es ist eine gute Massnahme, um das Durchmischen der verschiedenen Stufen möglichst zu vermeiden.»
Warnschilder am Lehrertisch
Ein Rundgang durch die Widi-Schulhäuser zeigt, dass das Hauptproblem im Alltag die Abstände sind. Während im Neubau die Zimmer grösser sind und die zusammengeschobenen Tische beibehalten werden können, sind diese «Inseln» im Altbau wieder zu klassischen Pultreihen geworden. Beim Lehrertisch prangt deutlich die Warnung, dass zwischen Lehrkraft und Schülern physisch Abstand gewahrt werden soll. «Es ist recht eng. Die Klassen mit 20 oder 22 Schülern benötigen einfach ihren Platz, und die Gruppenräume fehlen wirklich», sagt Marianne Gerber.
Gerade in der heutigen Situation spüre man das noch deutlicher als sonst. Geplant und bewilligt wäre ein An- und Ausbau des Schulhauses. Doch wegen Mehrkosten muss das Geschäft erneut vors Volk, und diese Urnenabstimmung ist wegen des Coronavirus von Mitte Mai auf den 5. Juli verschoben worden.
Intensiver Kontakt am Telefon
Mit dem Fernunterricht habe es geklappt, windet Gerber rückblickend allen ein Kränzchen. Es freut sie, dass sich praktisch alle Familien in dieser aussergewöhnlichen Situation privat organisieren konnten und wenig externe Hilfe in Anspruch genommen wurde. Der Kontakt zwischen Lehrkraft und Eltern respektive SchülerInnen sei durch die regelmässigen Anrufe intensiver gewesen als im Normalfall. So habe man auch direkte Rückmeldungen erhalten, ob zu viel Stoff respektive Aufgaben verteilt wurde und ob es passte.
Auch der Präsenzunterricht letzte Woche habe wirklich gut begonnen, Anpassungen seien derzeit nicht nötig. Die Lehrer hätten die SchülerInnen aber schon vermisst, sagt Marianne Gerber leicht schmunzelnd: «Schliesslich ist von uns niemand Lehrerin oder Lehrer geworden, um vor dem Computer zu sitzen.» Umso spürbarer ist die Freude, dass man sich wieder im Schulhaus begegnet – wenn auch mit Einschränkungen.
Oberstufe mit Augenmass
Auch in der Oberstufenschule Frutigen sind die Zimmer und deren Anzahl nicht grösser geworden in der Zwischenzeit. Man muss sich mit der Situation arrangieren. Für Schulleiter Matthias Zaugg ist klar, dass die Vorgaben eingehalten werden – so gut es im Präsenzunterricht eben möglich ist. «Wir können nicht verhindern, dass eine Lehrkraft nahe an Schülern vorbeigeht, wenn sie in der hintersten Reihe etwas erklären will. Wir alle müssen uns umgewöhnen, es ist nicht wie vor dem Ausbruch der Pandemie.»
Allerdings halten sich die Probleme in Grenzen. «Die Schüler nehmen die Situation unterschiedlich ernst. Aber sie sind gewissenhaft bei der Umsetzung der angeordneten Massnahmen», sagt Zaugg. Dazu gehören neben der Hygiene auch die Abstandsregeln, auf die immer wieder aufmerksam gemacht wird. In den gestaffelt durchgeführten Pausen werden die Oberstufenschüler-Innen darauf aufmerksam gemacht, dass Körperkontakt vermieden werden soll, aber man wende «gesundes Augenmass» an. Immerhin seien es 240 Jugendliche, die man im Blick haben müsse.
Keine Grauzone erlaubt
Unter den Lehrkräften gibt es hingegen keine Grauzone, Lehrkräfte seien Vorbilder. Matthias Zaugg achtet streng darauf, die Vorgaben des Bundesamtes für Gesundheitswesen und des Kantons einzuhalten. Das Lehrerzimmer wurde «entflochten», andere Räume zweckentfremdet und man könne sich ja auch mal an die frische Luft setzen. Mit dem Abstandhalten müsse man klarkommen. Das falle allerdings je nach Typ nicht immer leicht, unter Erwachsenen und auch gegenüber den Jugendlichen. Wer sich dabei nicht wohl fühle, müsse ernst genommen werden und es sind entsprechende Lösungen gefragt.
Der Schulleiter betont, wie wichtig der Präsenzunterricht sei, «auch wenn davon natürlich nicht alle Schüler gleich begeistert sind». Man spüre so wieder besser, wie es den Jugendlichen gehe. Und die Entlastung für die Familien sei enorm und nötig, meint der Vater von vier Kindern – davon drei schulpflichtig – aus eigener Erfahrung.
Vertrauen in die Schulen
Am letzten Montag sind sowohl in der Oberstufe als auch im Widi alle Schüler-Innen zum Unterricht erschienen, ebenso die Lehrkräfte. Eine Ausnahme gibt es im Widi, wo eine Lücke mit einer Stellvertretung gefüllt werden kann. Im Vorfeld waren in den Medien Befürchtungen laut geworden, dass es zu Engpässen kommen könnte und Lehrer wegen individueller Bedenken fehlen würden. Von bis zu 20 Prozent war zu lesen, was den Schulbetrieb vor riesige Probleme gestellt hätte. Davon kann zumindest in Frutigen keine Rede sein.
Wie lange die aktuelle Unterrichtssituation anhalten wird, ist heute unklar. Vielleicht sei man jetzt strenger als wirklich nötig – das wisse aber niemand mit Sicherheit, sinniert Matthias Zaugg. Für ihn ist dennoch klar, dass er bei den Auflagen und Kontrollen streng ist, damit möglichst rasch weitere Lockerungen im Schulbetrieb möglich werden.