Über die Grenzen
09.06.2020 Coronavirus, GesellschaftRückzug hinter die eigenen Landesgrenzen – oder jetzt erst recht mehr internationale Zusammenarbeit? Die Corona-Krise gibt beiden Tendenzen Auftrieb, sie verstärkt die gesellschaftliche Polarisierung. Aber wer hat die besseren Argumente?
TONI KOLLER
Als das ...
Rückzug hinter die eigenen Landesgrenzen – oder jetzt erst recht mehr internationale Zusammenarbeit? Die Corona-Krise gibt beiden Tendenzen Auftrieb, sie verstärkt die gesellschaftliche Polarisierung. Aber wer hat die besseren Argumente?
TONI KOLLER
Als das Coronavirus im März auch in der Schweiz um sich griff, reagierten weite Bevölkerungskreise sofort: «Grenzen zu!», lautete der Reflex. Er war insofern berechtigt, als die Krankheitsfälle im grenznahen Ausland – in Frankreich und namentlich in der Lombardei – ein bedrohliches Mass angenommen hatten. Wenn es draussen stürmt, schliesst man Türen und Fenster. So dauerte es nicht lange, bis der Bundesrat die Einreise ins Land nur noch für «systemrelevante» Grenzgänger und Grenzgängerinnen zuliess. In einer Pandemie gilt es, so gut wie möglich zu verhindern, dass das Virus aus «Hotspots» in weniger betroffene Gebiete verschleppt wird.
Artenvielfalt der Grenzen
Solche Gebiete sind allerdings nicht zwingend identisch mit Nationalstaaten. Es gibt Abgrenzungen von kontinentalem Ausmass, etwa Donald Trumps Reiseverbot für Europäer in die USA. Auch innerhalb von Staaten können Reisebeschränkungen sinnvoll sein, sie galten etwa zwischen den Regionen Italiens. Nicht so in der Schweiz – obschon eine Abriegelung heftiger betroffener Kantone wie Tessin oder Genf ins epidemiologische Massnahmenpaket passen würde. Auf der nächstunteren Stufe kommen die Gemeinden: Sollte das imaginäre Dorf Vorderhunzigenschwil eine extreme Häufung von Covid-19-Fällen aufweisen, dann wäre es wohl angezeigt, die Gemeindegrenze zu Hinterhunzigenschwil dichtzumachen – und auch zu weiteren bisher verschonten Nachbargemeinden. Bei einer Quarantäne darf man seine Wohnung nicht verlassen. Nun sind wir auf der Ebene der Personengruppen: Mit der Vorschrift «Nur vier Leute an einem Restauranttisch, Plexiglas oder zwei Meter Distanz zum nächsten» errichtete der Bundesrat die Schranken in Gasthäusern. Bleibt schliesslich die ultimative Gemarkung zwischen Einzelpersonen. Diese unsichtbare Grenze umgibt jeden von uns im Radius von einem Meter – woraus sich die gebotenen zwei Meter Abstand ergeben.
Nicht alles dient dem Zweck
Die Kaskade möglicher Grenzziehungen in der Pandemiezeit enthält sinnvolle Muster – und weniger sinnvolle. Obschon gerade die geschlossene Landesgrenze weitherum Zuspruch erhält: Wenn auf beiden Seiten eine ähnliche epidemiologische Lage herrscht und ähnliche Schutzmassnahmen gelten, ist der Schlagbaum überflüssig. So etwa an der Schweizer Grenze zwischen Basel und dem Bodensee, wo die Menschen in eng verwobenen schweizerisch-deutschen Agglomerationen zu lange durch Barrikaden und Gitterzäune getrennt wurden. Erst der Protest der beidseitigen Lokalbehörden in ihren Hauptstädten beendete die Willkür. Grenzen sollen schützen – wo es keinen Gesundheitsschutz braucht, sind sie offenzuhalten. Auch wenn es den Nationalisten nicht gefällt, die in der Krisenstimmung ihre Chance für permanente Grenzkontrollen und Abschottungspropaganda wittern. Freiheit ist eine grossartige Errungenschaft, und dazu gehört die schikanenfreie Bewegung über europäische Landesgrenzen hinweg.
«Re-Nationalisierung» der Wirtschaft?
Nun sind die Grenzen von Nationalstaaten nicht nur mehr oder minder nützliche Hürden gegen die Virenausbreitung. Staaten sind auch Wirtschaftsräume – welche heute allerdings in ausgeprägter Weise miteinander verflochten sind. In der Schweiz wird jeder zweite Franken im Austausch mit dem Ausland verdient, die Hälfte davon stammt aus dem Handel mit den EU-Ländern. Die Corona-Krise hat uns die Risiken dieser gegenseitigen Abhängigkeit vor Augen geführt: Anfangs kam es sogar zu einer Blockierung von Schutzmaterial, das für die Schweiz bestimmt war, durch deutsche und französische Behörden. Weil die Europäische Union in Sachen Gesundheitspolitik keine Zuständigkeit hat (sie ist kein Bundesstaat), wucherten in ihren Mitgliedsländern allerlei Alleingänge. Dazu gehört auch das aktuelle Wirrwarr in den Reisebeschränkungen: Werden sie epidemiologisch begründet, hat «Brüssel» dazu nichts zu sagen. Ob das gut ist so oder nicht, darüber lässt sich streiten. So oder so darf man hoffen, dass die EU – als Schengen-Mitglied gehört in Grenzfragen auch die Schweiz dazu – das Gewusel in einer nächsten Pandemie besser koordinieren wird.
Inzwischen hat die Union zumindest ihre finanzpolitische Rolle gefunden; sie wird der notleidenden Wirtschaft namentlich in Südeuropa mit einem umfangreichen Förderprogramm zu Hilfe kommen. In der Schweiz aber bleibt der Eindruck, dass mit «dem Ausland» in Krisenzeiten nicht zu rechnen ist. Schlagartig wurde uns bewusst, wie viel Lebensnotwendiges wir von dort beziehen: Gesichtsmasken und Schutzanzüge aus China, Medikamente aus Indien ... und woher kriegen wir dereinst den erhofften Impfstoff?
Autonomie bleibt Wunschdenken
Diese Abhängigkeiten erzeugen unverhofften Aufwind für linke und rechte Gegner der Globalisierung. Die Produktion ins eigene Land zurückholen, lautet die vielgehörte Devise. Und zwar – wenn wir schon dabei sind – nicht nur für medizinische Güter. Der Traum von einer sich selbst versorgenden, autarken Nation feiert Auferstehung. Aber man möge sich schon nur beim ersehnten Covid- 19-Impfstoff das Chaos vorstellen, wenn jeder einzelne Staat bei den Herstellern darum buhlt. Das wäre nicht nur ineffizient, es ergäbe wohl auch kein faires Resultat: Wirtschaftlich potente Länder kämen als Erste zum Zug. Weltweit gerechte Verteilung des kostbaren Guts vermag nur eine starke WHO zu garantieren.
Der Traum von der Selbstversorgung ist nicht zuletzt für die Schweiz eine Illusion. Bei den Lebensmitteln ist sie im gebirgigen Staat mit dichter Bevölkerung ohnehin unmöglich; es gab sie noch nie. Und soll ein Land wie die Schweiz seine eigenen Computer, Bügeleisen, Plastikregale und Autos erzeugen? Die geringen Stückzahlen des Eigenbedarfs würden ein solches Vorhaben enorm verteuern – abgesehen davon, dass nur der internationale Handel mit solchen Gütern die Vielfalt der Auswahl gewährt.
Grenzen der Globalisierung
Sinnvoll wäre eine eigenständigere Wirtschaft allenfalls dort, wo wir heute zum Schleuderpreis Waren aus Asien importieren: Elektronikartikel und Textilien, hergestellt von ausgebeuteten Arbeitskräften mit Hungerlöhnen. Auch in diesem Wirtschaftssektor wären wohl aber gerechtere Gehälter in den Produktionsländern – und etwas höhere Preise hierzulande – die bessere Lösung. Und müsste die weltweite Güter- und Personentransportindustrie endlich für die verursachten Umwelt- und Klimaschäden bezahlen, würde die Globalisierung von selber auf ein vernünftiges Mass schrumpfen.
Nein – der Rückzug auf den Nationalstaat ist auch nach Corona keine gute Idee. Was wir aber gelernt haben: Die Importwirtschaft muss über vielfältige Lieferquellen verfügen; die Abhängigkeit von einzelnen mächtigen Firmen oder Staaten ist zu vermeiden. Und nicht zuletzt braucht die Schweiz ein enges Verhältnis zu ihrem mit Abstand wichtigsten Handelspartner: zur Europäischen Union. Die ungehinderte Teilnahme an deren Binnenmarkt ist für das Wohlergehen der Schweiz essenziell – erst recht jetzt, wo eine Wirtschaftskrise droht.
«Grenzen zu!», hiess es am Anfang: Wenn es draussen stürmt, werden Türen und Fenster geschlossen. Nachher macht man Türen und Fenster besser wieder auf. Man könnte sonst ersticken.