Die Stromzukunft wird in Adelboden getestet
09.06.2020 Adelboden, WirtschaftMit einer intelligenten Steuerung der Produktion und Nachfrage sollen die zunehmenden Schwankungen bei der Stromerzeugung künftig ausgeglichen werden. Das Licht- und Wasserwerk Adelboden ist bei einem solchen Projekt mit dabei – und hat Visionen für ein kleines graues ...
Mit einer intelligenten Steuerung der Produktion und Nachfrage sollen die zunehmenden Schwankungen bei der Stromerzeugung künftig ausgeglichen werden. Das Licht- und Wasserwerk Adelboden ist bei einem solchen Projekt mit dabei – und hat Visionen für ein kleines graues Kästchen.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Die Vorgaben sind klar: Im Rahmen der Energiestrategie 2050 sollen 80 Prozent der Strombezüger bis 2027 mit digitalen Verbrauchszählern ausgestattet werden. Damit ist die Fernabfrage durch den Stromlieferanten möglich, was unter anderem die Rechnungstellung vereinfacht. Das Licht- und Wasserwerk Adelboden (LWA) hat eine einfache Installation mit dieser Möglichkeit bei rund 200 seiner 4500 Messstellen derzeit in Betrieb, doch wenn die flächendeckende Umrüstung kommt, will das LWA mehr aus den grauen Kästchen im Schaltschrank machen.
Adelboden will mitmischen
Geschäftsführer Pascal von Allmen sieht darin eine ganze Bandbreite von neuen Möglichkeiten für das Unternehmen. Diese Zähler sind nämlich kleine Computer. Zumindest derjenige, den er in der Hand hält. Es ist ein Prototyp des Schweizer Start-up-Unternehmens aliunid («all you need» – alles, was man braucht). Dieses entwickelt die Technik und hat derzeit einen schweizweiten Feldversuch am Laufen. Das LWA ist neben den Industriellen Betrieben Interlaken das einzige Energiewerk, das aus dem Oberland mitmacht. Insgesamt sind bei diesen Versuchen über ein Dutzend Firmen beteiligt, darunter auch grosse Wasserkraftwerkbetreiber. «Wir sind auf die Firma zugegangen. Wir wollen da mitmachen und vorn dabei sein, wenn es losgeht», sagt von Allmen. Derzeit sind in Adelboden 9 Kunden mit insgesamt 16 dieser neuen Geräte ausgestattet – von Ferienwohnungen über Gewerbebetriebe bis zu den Bergbahnen. Etwa gleich viele Geräte sollen bis Ende Juni 2020 nochmals dazukommen.
Flexiblere Lösungen
Im Sekundentakt meldet das Kästchen den Verbrauch und die dezentrale Produktion von Solaranlagen ans LWA. Mit diesem Echtzeitdaten soll künftig zum Beispiel die Warmwasseraufbereitung dann aktiviert werden, wenn die Sonne scheint, Strom aus erneuerbaren Energien im Überschuss vorhanden und damit am günstigsten ist. Das variiert bei der immer dezentraleren Stromproduktion aus erneuerbaren Quellen je nach Wetter, Tages- und Jahreszeit. Mit dem Abschalten von kontinuierlich produzierenden Atom- und Kohlekraftwerken in Europa und deren Ersatz durch Windräder und Solaranlagen wird die Bandenergie, also die immer vorhandene Grundproduktion, kleiner und die Gesamtproduktion im höheren Ausmass schwanken. «Sind zusätzlich grosse Wasserkraftwerke in unserem Verbund, können diese fast sekundenschnell hochgefahren werden, um den Bedarf direkt abzudecken oder die dezentral überschüssig produzierte Energie aus Solaranlagen in den Speicherseen zu lagern», erklärt von Allmen. Das ganze Netz wird ausgeglichener belastet sowie flexibler und dezentral steuerbar. Diese Zukunft bezeichnet aliunid als «atmende Versorgung». Das System misst, analysiert und steuert die Energieflüsse in Echtzeit vom Endkunden über das Verteilnetz bis zum Kraftwerk.
Was hat der Kunde davon?
Die Umstellung auf digitale fernauslesbare Zähler gemäss den Vorgaben der Energiestrategie 2050 ist für die Netzbetreiber kostenintensiv und die Kunden erhalten keinen wesentlichen Mehrwert. Der innovative Ansatz von aliunid geht hier wesentlich weiter. Durch die effizientere Energienutzung soll im Endeffekt ein Kostenvorteil für die Endkunden entstehen. «Wichtig ist, dass wir gleichzeitig noch einen potenziellen Mehrwert anbieten können», sagt Markus Gempeler. Er ist LWA-Geschäftsleitungsmitglied und Geschäftsführer der Adelcom AG. Dieses Tochterunternehmen spielt ebenfalls eine Rolle. Für das LWA bietet der kleine Computer nämlich die Möglichkeit, in Zukunft neue Dienstleistungen anzubieten. Das Gerät kann das Gebäude quasi zu einem Smarthome – einem intelligenten Haus – vernetzen, die Steuerung der Storen je nach Lichteinfall ist nur ein Beispiel. Es könnte aber auch die Alarmanlage oder die Ladestation für das Elektroauto steuern. Was in Zukunft noch alles dazukommen könnte, ist vielleicht noch gar nicht vorstellbar.
Wer steckt dahinter?
Derzeit werden die Funktionen getestet, die Hard- und Software durch aliunid weiterentwickelt und bereits ab April 2021 sollen die Geräte markttauglich sein. Hinter der Firma stehen Namen wie Dr. David Thiel (ehemaliger Konzernchef der Industriellen Betriebe Basel) und Prof. Dr. Andreas Danuser (Professor für Informatik an der Berner Fachhochschule). Der Bund sowie die besten Universitäten und technischen Hochschulen der Schweiz unterstützen das Vorhaben. Das LWA ist zwar noch nicht als Aktionär beteiligt, sondern als Projektpartner mit tieferem finanziellen Einsatz.
Adelboden bringt aber die Lage als Tourismusort mit saisonalen Schwankungen in die Tests ein, kann die Elektroinstallationen selbst durchführen und hat mit der Adelcom ein eigenes Kommunikationsnetz mit schnellen Leitungen. «Die Daten der Geräte werden via Internet übertragen. Es gehen nur vier anonymisierte Werte an den Anbieter, die restlichen Daten bleiben im Haus gespeichert», betont Pascal von Allmen. Das ist wichtig, da Datenschutz ein zentrales Thema der ganzen Vernetzung ist. «Wir wissen also, wer welche Daten bekommt. Zudem bleiben diese in der Schweiz, denn auch grosse internationale Technikkonzerne bearbeiten das Thema und wir hätten doch lieber eine vom Ausland unabhängige Schweizer Lösung.»