«Madame Frigo» will Lebensmittel retten
17.07.2020 Adelboden, GesellschaftBringe, was du möchtest und hole, was du brauchst – ein Selbstbedienungs-Kühlschrank im Parkhaus soll helfen, Food-Waste zu verringern.
YVONNE BALDININI
Wer den Eingang des Parkhauses gegenüber der Gemeindeverwaltung betritt, erblickt zu seiner Überraschung ...
Bringe, was du möchtest und hole, was du brauchst – ein Selbstbedienungs-Kühlschrank im Parkhaus soll helfen, Food-Waste zu verringern.
YVONNE BALDININI
Wer den Eingang des Parkhauses gegenüber der Gemeindeverwaltung betritt, erblickt zu seiner Überraschung einen Kühlschrank. In dessen Innern befinden sich ein Kabiskopf, Äpfel und eine Zitrone. Wer das Gemüse und die Früchte dort deponiert hat, bleibt ein Rätsel. Möglicherweise ist der Bringer oder die Bringerin in die Ferien abgereist oder hat zu viel eingekauft. Wie dem auch sei: Die Finderin kann sich über den essbaren Schatz freuen und mitnehmen, was sie mag.
Seit zwei Wochen ist der kostenlose Gemeinschaftskühlschrank in Betrieb. Jede und jeder, ob Privatperson, Detailhändler oder Restaurateur, darf geniessbare Lebensmittel hineinlegen, die sie oder er nicht mehr verwerten kann. Genauso darf sich jede und jeder an den dargebotenen Esswaren bedienen.
Standort, Strom und «Pflege»
Hinter der Idee steckt der Verein «Madame Frigo», der gegen Lebensmittelverschwendung in Privathaushalten kämpft. Vertreter der Adelbodner Energie- und Umweltkommission hatten ihn kontaktiert, weil sie sich wünschten, mit wenig Aufwand Nahrungsmittel vor dem Abfall zu bewahren. Für einen Gemeinschaftskühlschrank im Dorf brauchte es jemanden, der Standort und Strom zur Verfügung stellt. Ausserdem mussten Pflege und Kontrolle gewährleistet sein. Die Gemeinde wurde beim Parkhaus und dessen Geschäftsführer Bruno Klopfenstein fündig.
«Madame Frigo» stattete das Lohnerdorf also mit einen Kühlschrank aus. Bruno Klopfenstein, der für die Gemeinde im Verkehrs- und Sicherheitsdienst arbeitet, überprüft seither regelmässig, ob das darin gelagerte Essbare nicht abläuft. Jeden dritten Tag misst er die Temperatur des «Frigo» und putzt ihn, wann nötig. «Bis jetzt war er noch nicht so gefüllt, ich musste auch nichts entsorgen. Sogar der etwas ältere Kabiskopf ist nach zwei Tagen verschwunden», erzählt er.
Nahrungsverschwendung versus Stromverbrauch
Der Kühlschrank ist einer von insgesamt neun im Berner Oberland. Aus den Erfahrungen anderer Standorte wie Thun weiss Susanne Kuba, Kommunikationsverantwortliche von «Madame Frigo», dass Esswaren meist nicht länger als vier Stunden auf einen neuen Besitzer warten. Auf Anfrage holt das Team vor Ort auch Nahrungsmittel bei Händlern wie Bäckereien oder Grossverteilern ab.
Die Kühlschränke bekommt der Verein von der Haushaltsgerätefirma Electrolux gesponsert. «Energieeffizienz ist uns wichtig. Würden wir alte Frigos auf dem Flohmarkt kaufen, wären diese nicht nachhaltig.» Doch lohnt es sich, den ganzen Tag ein Elektrogerät laufen zu lassen, um einen Salatkopf und ein paar Äpfel zu retten? Susanne Kuba, die Nachhaltigkeitsmanagement studiert hat, räumt ein: Für die Ökobilanz sei es nicht die beste Lösung. Doch sobald viel Ware in den Frigos getauscht werde, vermindere sich dieser Konflikt. «Lebensmittel wegzuschmeissen oder sie ungekühlt zu teilen mit der Gefahr, dass sie noch schneller verderben, schadet der Umwelt mehr.» Denn ihre Herstellung erfordere einen enormen Energieaufwand (siehe Kasten). «Was wir hier machen, ist Symptombekämpfung. Besser wäre, es würde bei den Menschen zu Hause und in den Läden wenig oder nichts übrig bleiben.» Doch dies setze ein Umdenken bei den eigenen Ansprüchen und beim Kaufverhalten voraus. Deswegen besuchen Verantwortliche von «Madame Frigo» auch Schulen, um schon Kinder dafür zu sensibilisieren. «Wir Konsumenten sind die Stellschrauben für das Sortiment und letztlich für den Food-Waste bei den Händlern.»
Starke Umweltbelastung durch Lebensmittel-Müll
Ein Drittel (rund 2,8 Millionen Tonnen) aller für den Konsum produzierten Nahrungsmittel landen in der Schweiz jedes Jahr im Abfall. Dies entspricht der Ladung von 150 000 Lastwagen, die aneinandergereiht eine Kolonne von Zürich bis über Madrid hinaus ergeben. Fast die Hälfte davon werfen die Endkonsumenten weg. Würden die Lebensmittel gegessen, müssten weniger produziert werden. Die Herstellung nicht verzehrter Nahrung führt zu unnötigen CO2-Emissionen, Land- und Wasserverbrauch sowie Biodiversitätsverlust. Je weiter hinten in der Produktionsabfolge vom Acker bis zum Teller sie verloren gehen, desto gravierender. Mit jedem Schritt in der Wertschöpfungskette werden mehr Ressourcen verbraucht und Emissionen für Transport, Verarbeitung, Lagerung und Verpackung ausgestossen. Deshalb entsteht die Hälfte der Umweltbelastungen von Food-Waste in der Schweiz durch die Lebensmittel, die wir in Haushalten und Gastronomie wegwerfen. Die andere Hälfte wird durch Verluste zwischen dem Feld bis zum Einkaufswagen verursacht.
Die Umwelt belasten vor allem Lebensmittel, deren Herstellung viel Wasser, Boden, Verpackung und Transport benötigt, und solche, die besonders häufig vergeudet werden. In den Haushalten und in der Gastronomie trifft dies auf Brot, Backwaren, Frischgemüse, Schweine- und Rindfleisch zu. Die Nahrungsmittelkategorien mit der grössten Umweltbelastung pro Kilogramm Food-Waste sind Fleisch, Kaffee- und Kakaobohnen, Butter, Eier, Fisch, Käse, Öle und Fette sowie mit dem Flugzeug importierte Produkte. Trotz geringerer Umweltbelastung pro Kilogramm schaden auch die Verluste von Früchten, Gemüse und Kartoffeln, weil sie in grossen Mengen entsorgt werden.
Vermeidungsmassnahmen am Ende der Lebensmittelkette sind deshalb ausschlaggebend. Zu diesem Schluss kommt eine vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) in Auftrag gegebene Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich.
YB
Was in den Kühlschrank darf
• Obst und Gemüse
• Brot (in separatem Trockenfach)
• Verschlossene Lebensmittel, die höchstens das Mindesthaltbarkeitsdatum («mindestens haltbar bis»), nicht aber das Verbraucherdatum («zu verbrauchen bis») erreicht haben.
Nicht erlaubt sind Fleisch oder Fisch, Alkohol sowie schon geöffnete oder verarbeitete (gekochte) Produkte.
YB
Der Verein «Madame Frigo»
Um möglichst viele Lebensmittel vor dem Abfalleimer zu retten, entwickelten vier Jus-Studentinnen in einer Berner Wohngemeinschaft die Idee der Gemeinschaftskühlschränke. Daraus entstand 2018 der gemeinnützige Verein «Madame Frigo» mit Hauptsitz in Bern. Er wird vom Förderfonds Engagement Migros ermöglicht, der Pionierprojekte zum gesellschaftlichen Wandel unterstützt. Ehrenamtliche BetreiberInnen vor Ort kümmern sich um die jeweiligen Frigos in den Quartieren, vor Läden oder in Gemeinschaftszentren. Pro Standort kontrollieren zusätzlich zwei bis drei «Gotten und Göttis» laufend die Inhalte und helfen überdies beim Putzen.
In einem Jahr kann der Verein 20 Tonnen Nahrungsmittel vor dem Abfalleimer bewahren. Dies wurde in einer Begleitstudie hochgerechnet, indem Esswaren gezählt wurden, die im Schnitt pro Tag und Woche in den Gemeinschaftskühlschränken in der Stadt Bern lagen. Mit derzeit 47 Standorten in der Schweiz trägt dieses System zur Reduktion der Lebensmittelverschwendung bei.
YB