Der fliegende Knochenbrecher
17.07.2020 Region, NaturVor über 100 Jahren wurden Bartgeier in der Schweiz komplett ausgerottet. Dabei sind diese Riesenvögel völlig harmlos: Sie haben sich auf eine Nahrung spezialisiert, die sonst niemand haben will. Nun ist im Berner Oberland erstmals wieder ein junger Bartgeier aufgezogen worden. ...
Vor über 100 Jahren wurden Bartgeier in der Schweiz komplett ausgerottet. Dabei sind diese Riesenvögel völlig harmlos: Sie haben sich auf eine Nahrung spezialisiert, die sonst niemand haben will. Nun ist im Berner Oberland erstmals wieder ein junger Bartgeier aufgezogen worden.
MARK POLLMEIER
Dieser Vogel braucht Geduld. Wie die meisten Geier ist er auf Aas spezialisiert. Weil man aber tote Gämsen oder Steinböcke nicht an jeder Ecke findet, haben Bartgeier riesige Reviere von 100 Quadratkilometern und mehr, die sie regelmässig absuchen müssen.
Ist eine Nahrungsquelle gefunden, geht es allerdings nicht gleich zur Mahlzeit. Anders als viele Artgenossen fressen erwachsene Bartgeier nämlich nicht das Fleisch des toten Tieres – sondern nahezu ausschliesslich seine Knochen. Und weil Bartgeier nicht dafür gebaut sind, einen Kadaver auszuweiden, müssen sie warten, bis andere das für sie erledigt haben – etwa Beutegreifer wie Luchs oder Wolf. Erst wenn sich die grossen Fleischfresser verzogen haben, kommt der Bartgeier zum Zug. Er landet mit einigem Abstand und nähert sich dann «zu Fuss» seiner Nahrung. Nun geht es ans Eingemachte.
Den Werkzeugkasten immer dabei
Der Schnabel des Bartgeiers ist ein Multifunktionswerkzeug: Haken, Flachzange und Seitenschneider in einem. Mit diesem Spezialgerät löst der Vogel zielgerichtet Knochen aus dem Aas. Geschickt kappt er Sehnen und zerteilt punktgenau Gelenke. Weil er sich dabei nicht durch blutiges Fleisch arbeiten muss, ist der Hals des Bartgeiers auch nicht federlos wie bei anderen Geierarten – im Gegenteil. Gerade der Hals zeigt ein dichtes, helles Gefieder mit rötlichem Einschlag. Auch seinen Namen verdankt der Bartgeier einem speziellen Federmerkmal: Unter seinem «Kinn» hängt ein auffälliges schwarzes Bärtchen.
Eine Nahrung, die Durst macht
Sind die Knochen gesichert, werden sie häufig gleich «am Stück» verschlungen. Teile bis 18 cm Länge und 3 cm Dicke wandern ohne Probleme in den Schlund des Bartgeiers. Dabei kommt ihm die besondere Anatomie seiner grossen Kehle zugute: Die Luftröhre reicht bis fast in die Schnabelspitze. Sollte auf dem Weg nach unten einmal ein Knochen stecken bleiben, gerät der Vogel also nicht gleich in Atemnot, wie das bei einem Menschen der Fall wäre.
Dass der Bartgeier seine ungewöhnliche Nahrung überhaupt verwerten kann, verdankt er einem sehr robusten Verdauungsapparat. Seine Magensäfte sind derart sauer, dass sich der Knochenkalk schnell darin auflöst. Ist das einmal geschafft, bekommt der Geier alles, was er zum Leben braucht. Knochen enthalten Eiweiss und Mineralstoffe, ihr Mark hat einen relativ hohen Fettanteil. Nur mit dem Wassergehalt hapert es, weswegen Bartgeier häufig trinken müssen. Fehlt eine sichere Trinkwasserquelle, fliegen sie hinauf zu den Gipfeln und versorgen sich mit Schnee.
Besonders wertvoll sind für die Bartgeier natürlich die dicksten Knochen eines Tieres, etwa jene aus den Gliedmassen. Allerdings sind diese Teile eben zu gross, um sie einfach herunterwürgen zu können. Doch Bartgeier wissen sich zu helfen – sie haben die angeborene Fähigkeit, unhandliche Knochen zu knacken. Dazu fliegen sie mit den begehrten Stücken in grosse Höhe, setzen zum Sturzflug an – und lassen ihre Beute genau im richtigen Moment fallen (siehe grosses Bild oben). Aus etwa 80 bis 100 Metern krachen die Knochen dann auf geeignete Felsen. Bis zu 40-mal wiederholt ein Bartgeier diese Prozedur, bis die zu grossen Teile endlich zersplittern und gefressen werden können. Erfahrene Altvögel brauchen dafür weniger Anläufe als Jungvögel. Denn auch wenn das Knochenbrechen den Tieren im Blut liegt, müssen sie diese Fertigkeit üben und perfektionieren.
Es darf auch mal eine Schildkröte sein
Es gibt wenige Ausnahmen, in denen Bartgeier etwas anderes verzehren als Knochen. So brauchen sehr junge Vögel in der Wachstumsphase noch Muskelfleisch. Je nach Region gönnen sich aber auch die Alten ab und zu einen saftigen Happen. Aus dem Mittelmeerraum ist bekannt, dass Bartgeier mit ihren grossen, beweglichen Krallen Landschildkröten aufgreifen. Diese tragen sie dann hoch hinauf und lassen sie fallen – was die bedauernswerten Panzertiere nicht überleben. Wieder gelandet, geniessen die Vögel dann die frische Kost aus dem Inneren der Schildkröte.
Der spanische Name für den Bartgeier ist übrigens Quebrantahuesos – «derjenige, der die Knochen bricht.»
Lämmerräuber, Kindermörder
Bis ins 19. Jahrhundert waren die fliegenden Knochenbrecher auch in den Schweizer Alpen heimisch. Wegen der Verbreitung von Schauermärchen wurden sie dann innerhalb weniger Jahrzehnte ausgerottet. Die imposanten Vögel würden Gämsen, Lämmer und sogar Kinder verschleppen, hiess es. Die Propaganda wirkte: Der letzte Schweizer Bartgeier fiel 1886 in Visp vom Himmel.
In den 1970er- und 80er-Jahren begann man, die majestätischen Tiere wieder in den Alpen anzusiedeln, zuerst in Österreich, dann in der Schweiz. Dazu wilderte man sehr erfolgreich Jungtiere aus, die man den Nestern ausländischer Geierpaare entnommen hatte. Bis heute wuchs so die Population im gesamten Alpenraum auf 200 bis 300 Tiere an.
In der Region hat nun erstmals seit über 100 Jahren wieder ein Geierpaar ein Jungtier ausgebrütet und grossgezogen, im westlichen Berner Oberland, wie der Kanton und die Stiftung Pro Bartgeier mitteilten. Gesichert ist der Berner Bestand damit nicht – die Population ist noch klein und damit anfällig. Doch für die Rückkehr des Riesengleiters ist die «Geburt» eines heimischen Jungvogels ein gutes Zeichen.
Im Frutigland kann man ein Bartgeier-Exemplar am ehesten rund um Kandersteg sichten (Gasterntal, Gemmi, Oeschinensee), aber auch auf dem Hahnenmoos über Adelboden.