Patriotismus in den Ferien
31.07.2020 Coronavirus, Analyse, RegionMuss ein schlechtes Gewissen haben, wer der Schweiz in diesem Jahr ferienhalber den Rücken kehrt? Oder hat die Heimattreue auch ihre Grenzen? Eine Abwägung.
TONI KOLLER «Macht Ferien in der Schweiz!» So hat es uns Bundesrat Ueli Maurer inmitten der Corona-Krise ...
Muss ein schlechtes Gewissen haben, wer der Schweiz in diesem Jahr ferienhalber den Rücken kehrt? Oder hat die Heimattreue auch ihre Grenzen? Eine Abwägung.
TONI KOLLER «Macht Ferien in der Schweiz!» So hat es uns Bundesrat Ueli Maurer inmitten der Corona-Krise empfohlen. Tatsächlich gibt es dafür ein paar gute Gründe. Zum einen scheint der Besuch gewisser Weltgegenden – wenn sie einen überhaupt hereinlassen – derzeit wenig ratsam: Wer will schon bei der Heimkehr in Quarantäne gesteckt werden, weil der Bund das Ferienziel inzwischen als Risikoland eingestuft hat? Zweitens (das hat der Bundesrat zwar nicht gesagt) schonen kürzere Reisedistanzen das Klima. Schliesslich und vor allem soll der regierungsamtliche Aufruf der hiesigen Tourismuswirtschaft dienen: Wegen Reisebeschränkungen und Reiseängsten bleiben Hunterttausende ausländische Gäste in diesem Sommer der Schweiz fern. Dies trifft vor allem die städtische Hotellerie und Destinationen mit hohem Gästeanteil aus Übersee mit Wucht. Aber auch die übrigen Berggebiete mussten – nach dem abrupten Abbruch der Wintersaison – um ihr Sommergeschäft bangen.
Die regionalen Tourismusorganisationen der Schweiz haben sich denn auch ins Zeug gelegt, um mit aufwendigen Werbekampagnen das Schweizer Ferienvolk anzulocken. Das Entdecken der geheimen Schönheit hinterster Bergtäler wird ebenso angepriesen wie der Charme unserer Grossstädte, die es zwar kaum mit Paris oder Florenz aufnehmen können – aber hey, jetzt kommt und guckt doch mal bei uns hier vorbei – so schön! Den eher zu Wasser und Beach-Fun neigenden Ferienkandidaten zeigt man derweil das gleissende Sonnenlicht über blauen Schweizer Seeufern, mancherorts inklusive (echtem oder künstlich herangeschafftem) Sandstrand.
Fast so schön wie im Ausland
Der bundesrätliche Appell und das Buhlen der Tourismusbranche um einheimische Kundschaft scheinen von Erfolg gekrönt. Wo man dieser Tage hinhört, ist die Rede von übervollen Campingplätzen, ausgebuchten Ferienwohnungen und gut belegten Hotels. Naja, die Unterkünfte sind vielleicht teurer als im Ausland, dafür spart man an den Reisekosten. Jedenfalls bietet offenbar auch die Schweiz den Schweizern ein ordentliches Ferienfeeling. Die Vielfalt unserer Landschaften deckt das Bedürfnis nach einem Kulissenwechsel. Auch wer ferienhalber gerne andere Kulturen um sich herum wahrnimmt, kommt im mehrsprachigen Land einigermassen auf seine Rechnung: Genfer erforschen vielleicht erstmals im Leben das Appenzellerland und verstehen kein Wort, Zürcherinnen zelten mit ihrem Schulfranzösisch am Lac de Joux im Waadtländer Jura. Und Wanderfreudige erklimmen statt des Zuckerhuts in Rio de Janeiro den Monte San Salvatore bei Lugano: typengleich, aber ganz in der Nähe. Ach Corona – wieso sind wir früher überhaupt je auf die Idee gekommen, ins Ausland zu verreisen?
Nun ja, so weit her ist es denn doch nicht mit der helvetischen Mannigfaltigkeit. Zu allgegenwärtig sind die Institutionen und Symbole, die das ganze Land durchziehen. Wo auch immer wir sind, begegnen wir den SBB (rot-weiss), der Post (gelb), der Migros (orange), dem Coop (dito), den Wanderwegweisern (gelb). Die Autobahnschilder (grün) zeigen noch in der abgelegensten Gegend den Weg nach Zürich. Und ob daheim oder in den Ferien: Zahlungsmittel bleibt der Schweizer Franken.
Die Ferne ruft
Solch nationale Gemeinsamkeiten sind eine Grundlage der Schweizer Identität, sie tragen bei zum Zusammenhalt der Willensnation. Gut so. Aber brauchen wir das alles auch noch in den Ferien?
Vielen Inlandtouristen macht das konstante Erinnertwerden ans Schweizerische natürlich nichts aus; «Ferien in der Schweiz» haben schliesslich eine lange Tradition und sind keine Corona-Erfindung. Trotzdem steckt wohl in den meisten von uns der Drang, den Rahmen des Guteidgenössischen hin und wieder zu verlassen, einzutauchen ins Fremdartige. Das kann der Sand der Wüste sein, die Endlosigkeit des Ozeans, die Enormität von Städten wie New York. Vielleicht auch nur der Anblick der Dolomiten, der Weinberge der Toscana, der Strände der Côte d’Azur. Tolle Gipfel, Rebhänge, Sandstrände (siehe oben) gibts hierzulande alles auch, Französisch und Italienisch ebenfalls – aber dort unten ist es halt doch irgendwie nicht dasselbe; immerhin hat man wenigstens mal eine andere Währung im Sack. Auch wenns bloss der Euro ist. Ob auf einem Rucksackabenteuer in Albanien, einer Velotour durch die norwegische Tundra oder in einer gemütlichen Ferienwohnung im Vorarlbergischen: Es tut gut, sich zwischenhinein vom allzu Gewohnten abzusetzen. Und was uns guttut, kann nicht von vornherein falsch sein.
Sowohl als auch
Dem Aufruf «Macht Ferien in der Schweiz» schulden wir deshalb auch in Corona-Zeiten keinen strikten Gehorsam. Auch darum nicht, weil das Schweizer Tourismusmarketing gerade besonders aktiv ist, um trotz allem möglichst viele Gäste aus aller Herren Länder herbeizulocken. Da ist eine Gegenleistung unsererseits durchaus angebracht: Mit dem Besuch von Ländern, die vom Tourismus manchmal noch abhängiger sind als wir.
Aber eben: für «Ferien in der Schweiz» spricht ebenso vieles. Übrigens nicht nur jetzt, sondern vor wie nach der Pandemiezeit. Reisen stiftet Erholung, Reisen bildet und weitet den Horizont – beidseits der Heimatgrenzen. Also tun wir doch das eine, ohne das andere zu lassen. Machen wir Ferien in der Schweiz und dazu noch gelegentlich einen Abstecher ins Ausland, oder reisen wir ein paar Tage durch die Schweiz und verbringen den Urlaub in einem anderen Land. So sieht er aus, der gutschweizerische Ferienkompromiss. Nebenher fördert diese multinationale Ferienpraxis sogar noch den Patriotismus. Weil wir nämlich nach der Rückkehr aus fremden Landen manchmal umso begeisterter sind über das vergleichsweise makellose Funktionieren des hiesigen Staatswesens.