«Angst macht nicht glücklich»
15.09.2020 Frutigen, GesellschaftPORTRÄT Zweimal schon hat der gebürtige Frutiger Thomas Zurbrügg um sein Leben gekämpft. Zuerst kam er mit einem Kratzer davon, drei Jahre später wurde sein Gesicht zertrümmert. Wie geht es ihm heute?
PETER ROTHACHER
Leise summend bläst Thomas Zurbrügg durch ...
PORTRÄT Zweimal schon hat der gebürtige Frutiger Thomas Zurbrügg um sein Leben gekämpft. Zuerst kam er mit einem Kratzer davon, drei Jahre später wurde sein Gesicht zertrümmert. Wie geht es ihm heute?
PETER ROTHACHER
Leise summend bläst Thomas Zurbrügg durch ein Röhrchen in die Flüssigkeit in der Mineralwasserflasche. «Dabei verspüre ich ein Vibrieren in den Backen und es tut vor allem meiner Stimme gut, die derzeit wie bei einer leichten Erkältung tönt», sagt der 33-Jährige erklärend. «Den Tipp hat mir eine befreundete Opernsängerin gegeben.» Und der Zufall will es, dass der in Frutigen aufgewachsene Mann gerade jetzt eine anfliegende Wespe abwehren muss. Sein Kommentar: «Als Kind habe ich beim Trinken ein solches Insekt in den Mund bekommen, worauf es mich prompt in den Rachen gestochen hat. In der Folge musste ich wegen Atemnot ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen.» Und das sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, denn der heutige Flugbegleiter kämpfte seither zweimal um sein Überleben.
In eine Gletscherspalte gestürzt
Am 16. März 2016 war Thomas Zurbrügg mit einem Kollegen im Gebiet Jungfraujoch / Louwihorn unterwegs. «Ich glaubte, bei der Abfahrt per Snowboard einer alten Aufstiegsspur zu folgen. Diese erwies sich dann aber als eine mit Schnee überdeckte Gletscherspalte: Ich brach ein und fiel gegen 30 Meter tief.» Unverletzt rechnete der Pechvogel mit einer baldigen Rettung, da der Kollege sein Verschwinden doch sicher bemerkt haben musste. Zurbrügg steckte auf seinem Snowboard zwischen zwei Eiswänden im Schnee fest, konnte den blauen Himmel erspähen und rief um Hilfe.
Doch die Zeit verstrich. Der damals 29-Jährige befreite sich vom Schnee, schlug mit dem Eispickel Löcher in beide Eiswände und sicherte sich mit den Stöcken und einem Seil, um nicht noch tiefer zu fallen. Aus dem Rucksack verpflegte er sich und zog an, was er an Kleidern dabei hatte. Das LVS-Gerät empfing kein Signal. Auch das Mobiltelefon war ohne Netz, diente aber dazu, Fotos zu machen und eine Sprachnachricht aufzunehmen. Denn als nach über einer Stunde noch immer keine Rettung nahte, begann der Abgestürzte, sich Gedanken über sein mögliches Ableben zu machen. Er verfasste eine Abschiedsbotschaft, bedankte sich darin bei einer guten Freundin und bat sie, Grüsse an seine Eltern auszurichten.
«Dank meines Glaubens – ich suchte das Gespräch mit Gott – hatte ich keine Angst vor dem Tod und entsprechend keine Anzeichen von Panik», erinnert sich Zurbrügg. «Doch trotz der Überzeugung, dass es im Paradies wohl noch schöner sein wird als auf Erden, war mein Lebenswille intakt.» Und so reifte nach über zwei Stunden der gefährliche Plan, es mit Hochklettern zu versuchen. Aber bevor er sich vom Snowboard befreite, wurde sein Rufen doch noch beantwortet: «Wir haben dich gehört – wir kommen zu dir.»
Die Rettung gefilmt
Ein Bergretter seilte sich in der Spalte bis auf einige Meter oberhalb Zurbrüggs ab, erkundigte sich nach dessen Befinden, warf ihm dann ein Seil zur Sicherung zu und ein zweites zur Bergung des Materials. «Nachdem meine Ausrüstung hochgezogen wurde, war ich an der Reihe. Als mir oben jemand über die Eiskante half, blickte ich zu meiner Überraschung in eine Filmkamera.» Wie sich herausstellte, entstanden die Aufnahmen, die später im Fernsehen gezeigt wurden, im Rahmen einer Dokumentation über die Air Zermatt, die bei der Bergung mit der Air Glacier zusammenarbeitete.
Der Gerettete wurde nach einer Erstversorgung vor Ort zum Spital Frutigen geflogen. «So gesund wurde ich noch nie ins Krankenhaus eingeliefert – bis auf einen Kratzer im Gesicht hatte ich beim Sturz in die Gletscherspalte nichts abbekommen.»
Der nächste Schicksalsschlag
Dass es auch anders geht, musste der jetzt in Bern-Bümpliz Wohnhafte gut drei Jahre später, im Juni 2019, erfahren. «In der Region Turtmann fuhr ich mit den Inlineskates talwärts, stürzte und prallte mit dem Kopf in die Kante einer Leitplanke. Resultat: Eine zertrümmerte Gesichtspartie, ein herausgedrücktes linkes Auge und eine verletzte Lunge.» Auf der Intensivstation des Inselspitals konnte Zurbrügg dann fast zwei Wochen lang weder sehen noch sprechen und kaum etwas hören. In stundenlangen Operationen wurden die diversen Schädelfrakturen zuerst in Bern und später in einer Klinik in Zürich unter dem Einsatz von viel Metall repariert.
Mittlerweile ist Zurbrügg mit gewissen Einschränkungen ins einigermassen normale Leben zurückgekehrt. Ein Auge ist allerdings definitiv verloren und durch ein Glasauge ersetzt worden. «Rund ums andere Auge gibt es noch einiges zu operieren. Das Augenlid funktioniert noch nicht richtig und eine nicht enden wollende Entzündung beeinträchtigt mich weiterhin.» Der Geruchssinn ist eingeschränkt und der Mund lässt sich nur zu zwei Dritteln öffnen. Seit Mai konnte er sich von den diversen Eingriffen erholen, bevor jetzt im September eine weitere Kieferoperation sowie Korrekturen an den Augenlidern anstehen.
Das Optimum zum Ziel
«Im Grunde geht es mir gut», sagt Thomas Zurbrügg. «Und wenn mich etwas stört – wie jetzt eben gerade die abnormal tönende Stimme – motiviert mich das, etwas dagegen zu unternehmen.» Dabei strebe er immer das Optimum an. «Das ist herausfordernd und spannend, lässt mich aber manchmal auch hadern.» Dazu komme eine gewisse Unsicherheit bezüglich der Zukunft: «Hat der Unfall eventuell mein Gehirn beeinträchtigt und meine Persönlichkeit verändert? Kann ich dereinst meinen Beruf bei der Swiss wieder ausüben?» Vom Arbeitgeber habe der Flugbebleiter bis jetzt nur motivierende Signale erhalten.
Für den gebürtigen Frutiger ist Adrenalin ein wichtiger Wert im Leben. Und so frönt er, so gut es geht, bereits wieder seinen Hobbys: Schneesport, Biken, Schwimmen, Abseilen und die Natur geniessen. «Ich bin sportlich vielseitig engagiert, wobei es für mich heute schneller extrem wird und ich früher an meine Grenzen stosse.»
Kaum Angst vor Corona
Thomas Zurbrügg gehört – je nach medizinischer Auffassung – aufgrund seiner Krankheitsgeschichte zur Covid- 19-Risikogruppe. Trotzdem fürchtet er sich nicht davor, und ein verordneter Corona-Test ist negativ ausgefallen. «Ich finde, die Maskenpflicht im öV ist richtig. Aber ansonsten kann man sich schon fragen, wie weit man gehen soll. Was bedeutet leben?» Angst mache nicht glücklich. Und er meint: «Es ist wunderschön, da zu sein – aber auch ‹easy› zu bleiben …» Wenn der Tod keine Option sein dürfe, werde das Leben schwierig.
Er habe dank des bisher Erlebten viel über sich selbst gelernt. «Und so will ich mich auf das fokussieren, was mir bleibt und was ich kann.» Positives Denken und Dankbarkeit stünden im Vordergrund: «Ja, ich habe beim Unfall ein Auge verloren. Aber ich habe zwei gute Freunde, die sind blind …»
ZUR PERSON
Der Frutiger Thomas Zurbrügg ist in einem freikirchlich geprägten Elternhaus an Winklen aufgewachsen. Er absolvierte eine KV-Lehre bei der UBS in Interlaken und besuchte den BMS-Unterricht in Thun. Neben der Anstellung bei der Spar- und Leihkasse Frutigen studierte er später Betriebsökonomie. Von Frutigen – wo er in der Pfingstgemeinde ein Theologiejahr mit Jugendarbeit absolviert hatte – zog Zurbrügg 2011 nach Zürich. «In eine komplett andere Welt», wie er heute erklärt. Als Flugbegleiter bei der Swiss bereiste er seither fast die ganze Erde. Der sportlich sehr aktive Mann erlebte 2016 eine wundersame Rettung aus einer Gletscherspalte. Ein Jahr später heiratete er Tanja, eine heute in der Nähe von Bern tätige Katechetin (Religionslehrerin) aus Zürich. Zwei Wochen nach dem Bezug der gemeinsamen Wohnung in Bümpliz verunfallte Thomas Zurbrügg im Juni 2019 schwer, und er kämpfte erneut um sein Leben. Der heute 33-Jährige hofft, nach der vollständigen Genesung wieder als Flugbegleiter arbeiten zu können.
PRR