Aus dem Tritt geraten

  29.09.2020 Landwirtschaft

MARK POLLMEIER
Die SVP steht für das Versprechen, dass die Schweiz beides gleichzeitig sein kann, sowohl unabhängig und politisch selbstbestimmt als auch ökonomisch höchst erfolgreich. Der letzte Sonntag zeigt: Die Schweizer Bevölkerung nimmt der SVP dieses Versprechen nicht mehr ab. Angesichts der unsicheren Wirtschaftslage wollte die Mehrheit keine Experimente und liess die Begrenzungsinitiative (BGI) durchfallen. Selbst ein ländlicher Verwaltungskreis wie Interlaken-Oberhasli sagte Nein.

Dabei hatte die SVP zuletzt durchaus geschickt agiert. Mit ihrem Schlagwort von der «10-Millionen-Schweiz» nahm sie den Sound der Klima- und Umweltbewegung auf und traf damit durchaus einen Nerv. Dass das Land quasi «vor die Wand gefahren» wurde, wie es die SVP in ihrer Wahlpropaganda gelegentlich darstellte, ist zwar Unsinn. Die Schweiz steht im internationalen Vergleich blendend da. Wahr ist aber auch, dass es angesichts endlicher Ressourcen nicht ewig so weiter gehen kann. Eine Schweiz mit zehn Millionen oder noch mehr Einwohnern ist für viele ein Schreckgespenst.

Das Frutigland hätte Ja gesagt
So mancher wird deshalb contre cœur mit Nein gestimmt haben – weil er die Kritik an der Zuwanderung durchaus teilt, aber mitten in der Corona-Krise den Bruch mit der EU nicht riskieren wollte. Sicher hat hier auch die Kampagne der Gegner Wirkung gezeigt. Für den Wirtschaftsstandort Schweiz sei die radikale BGI brandgefährlich, hiess es allenthalben, und die Mehrheit teilte schliesslich diese Sorge.

Im Frutigland, wo die SVP traditionell fest verankert ist, ergibt sich wie so oft ein anderes Bild. In fünf von sieben Gemeinden wertete man die Zuwanderungsbegrenzung wichtiger als mögliche Negativfolgen für die Wirtschaft und stimmte für die BGI. Die Konsequenzen, das Ende der Personenfreizügigkeit und den (wahrscheinlichen) Wegfall der Bilateralen 1, hätte man hier also in Kauf genommen (siehe Tabelle unten links).

Der Ton wird rauer
Aber eben: Es kam anders, und nun jubeln die Gegner der Vorlage. Dabei verkennen sie, dass die in der BGI thematisierten Probleme nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben sind. Auch wenn die Personenfreizügigkeit vorerst «gerettet» ist, wird die Zuwanderung ein umstrittenes Thema bleiben – vielleicht nicht sofort, aber spätestens, wenn sie wieder zunimmt. Darüber hinaus steckt das Verhältnis der Schweiz zur EU mitten in einer Belastungsprobe, und der Ton wird rauer.

Am letzten Freitag meldete sich EU-Ratspräsident Charles Michel via Twitter zu Wort. Der EU-Markt sei für diejenigen offen, die seine Standards respektieren, so Michel. Man werde künftig die gleichen Wettbewerbsbedingungen für alle besser durchsetzen. «Ganz gleich, ob sie unsere Union verlassen oder sich ihr annähern wollen.» Zwei Tage vor einem wichtigen Schweizer Abstimmungstermin war klar, wem diese Botschaft galt.

«Wir brauchen der EU nicht beizutreten»
Auch in der Schweiz verhärten sich die Fronten. Das eigentlich schon 2018 ausgehandelte Rahmenabkommen mit der EU gerät immer stärker unter Druck, und das ganz ohne Zutun der SVP. Vor wenigen Tagen meldete sich der frühere Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann via NZZ zu Wort und liess kein gutes Haar an dem Vertragswerk. Das Rahmenabkommen sei eine Gefahr für die Schweizer Souveränität. Schneider-Ammann wörtlich: «Wir brauchen der EU nicht beizutreten und müssen auch nicht mit einem unausgewogenen Rahmenabkommen darauf vorbereitet werden.» Der Schlag sass.

In der vergangenen Woche schliesslich signalisierten Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in einem gemeinsamen Brief an den Bundesrat, das Abkommen sei mit ihnen nicht zu machen. Als Begründung nannten die Sozialpartner den Lohnschutz. Wie der Bundesrat auf dieser Grundlage mit Brüssel nachverhandeln soll, ist rätselhaft. Klar ist jedenfalls: Ohne die Unterstützung von Gewerkschaften und Arbeitgebern ist das Rahmenabkommen erledigt.

Eine Partei auf Themensuche
So könnte die SVP ihr grosses Ziel, das Vertragswerk zu kippen, am Ende doch noch erreichen – mit der Folge, dass sich Schweiz und EU mittelfristig voneinander entfernen würden. Die Frage ist, welche gestalterische Rolle die SVP selbst dabei spielen kann. Momentan sind es andere Kräfte, die in der EU-Frage Takt und Tempo vorgeben. Die SVP darf zwar behaupten, es immer schon gewusst zu haben – aber sie kann diese Genugtuung nicht in politische Erfolge ummünzen. Es ist paradox: Viele Bürger sind inhaltlich durchaus auf der Linie der SVP. Aber sie trauen ihr nicht zu, für die Herausforderungen der Zeit angemessene Lösungen zu finden.

Dieser Zustand wird die grösste Partei der Schweiz nicht kalt lassen, unter den Mandatsträgern rumort es. «Wir brauchen wieder ein Projekt mit Erfolgsaussichten!», kommentierte etwa der St. Galler Nationalrat Lukas Reimann den Abstimmungssonntag. Sonst seien die Parteimitglieder demotiviert und das Engagement der Basis lasse nach. Die SVP müsse jetzt über die Bücher gehen und dabei auch über ihr Themenportfolio nachdenken, so Reimann – eine Forderung, die auch von anderen Parteivertretern zu hören war.

Milliardäre und Bergbauern
Sich über solche Inputs Gedanken zu machen, ist nun Aufgabe der Parteiführung unter ihrem noch weithin unbekannten neuen Präsidenten Marco Chiesa. Nebenbei muss der 45-jährige Tessiner «Milliardäre und Bergbauern zusammenbringen», wie Ueli Maurer es ausdrückte, die Basis bei der Stange halten sowie einige problematische Kantonalparteien disziplinieren. Reichlich Arbeit für einen Neuanfang.

Immerhin: Die gerade verlorene BGI wird man nicht Chiesa anrechnen, sondern seinem Vorgänger Albert Rösti. Der hatte bei seinem Abschied an der letzten Delegiertenversammlung gesagt, als SVP-Präsident müsse man nicht nur gut arbeiten, man müsse eben auch Tore schiessen.

Der Oberländer wird heilfroh sein, dass nun ein anderer im Sturm steht.


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