Wollten die Gesetzgeber zu viel?

  29.09.2020 Landwirtschaft

BIANCA HÜSING
Dass es knapp werden würde, hatte sich bereits in den Umfragen abgezeichnet. Im Gegensatz zu anderen Vorlagen dieses grossen Abstimmungssonntags konnte das Jagdgesetz die Bevölkerung von vornherein nicht so eindeutig in die eine oder andere Richtung ziehen. Dass die Zitterpartie bis in den späten Nachmittag hinein andauern würde, hätte indes wohl niemand zu prophezeien gewagt. Erst kurz vor 17 Uhr liess sich der Politologe Lukas Golder im SRF zu einer klaren Aussage hinreissen. Das Jagdgesetz sei abgelehnt worden und das Resultat in der Tendenz nicht mehr zu ändern. Zuvor hatten die Zwischenerhebungen stets bei 50:50 gelegen oder waren abwechslungsweise zu «Ja» und «Nein» gekippt. Für Gegner und Befürworter der Gesetzesrevision war dieser Tag gewiss eine nervliche Zerreissprobe. Woran mag das gelegen haben?

Starke Kampagne für 2 Millionen
Beide Seiten hatten im Abstimmungskampf schwere Geschütze aufgefahren. Die Ja-Komitees setzten einerseits auf emotionale Betroffenheit, indem sie die Angst der Bergbauern vor einem Wolfsangriff in den Vordergrund rückten. Vor Sorge um ihre Schafe könnten sie laut Markus Ritter, Chef des Schweizer Bauernverbands, kaum schlafen. Um auch dem zunehmenden Umweltbewusstsein in der Bevölkerung Rechnung zu tragen, verkauften die Befürworter das Jagdgesetz als Beitrag zum Erhalt der Artenvielfalt.

Auch die Gegner geizten keineswegs mit verkürzenden Aussagen und zugespitzten Darstellungen. Luchse und Biber erschienen auf Plakaten im Fadenkreuz, die Vorlage wurde als «missratenes Gesetz» bezeichnet, das den Wolf zum Abschuss auf Vorrat freigebe. Jägern warf man vor, sich eines unliebsamen Konkurrenten entledigen zu wollen.

Präsenter waren zweifelsohne die Gegner. Politikwissenschaftler Lukas Golder attestiert ihnen eine «sehr gut orchestrierte Kampagne» – und die haben sie sich einiges kosten lassen. Pro-Natura-Geschäftsleiter Urs Leugger-Eggimann schätzt die Ausgaben auf über 2 Millionen Franken, die vorwiegend durch Kleinspenden zusammengekommen seien. Mitte September zählte die Uni Bern in Printmedien 538 Contra- und 108 Pro-Inserate.

Allein an der Sichtbarkeit ihrer Kampagne gemessen, hätten die Gegner die Abstimmung demnach deutlicher für sich entscheiden können. Dass dem nicht so war, hat vermutlich mit dem Grundkonsens zu tun, dass es eine Neuauflage des veralteten Jagdgesetzes braucht. Und damit, dass selbst die Gegner anerkennen, die Vorlage enthalte einige «unbestritten gute» Punkte.

Parlament provozierte Referendum
Der Bundesrat stellte die Revision denn auch als guten Kompromiss zwischen den Anliegen der Tierschutzverbände und jenen der Landwirte dar. Doch so gut kann der Kompromiss nicht gewesen sein, wenn er die Bevölkerung derart zu spalten vermochte. Selbst innerhalb der Parteien und auch in den Reihen der Jäger war man sich keineswegs einig. Haben die Gesetzgeber am Ende zu viel gewollt? Nach einer mehr als zwei Jahre währenden Debatte, in der das Jagdgesetz immer wieder zwischen Nationalund Ständerat hin- und hergeschoben worden war, einigte sich das Parlament im Herbst 2019 schliesslich auf eine Version, die in mehrfacher Hinsicht über den ursprünglichen Vorschlag des Bundesrats hinausging. So wollte das Parlament den Abschuss auffälliger Wölfe auch im Jagdbanngebiet zulassen – und zwar selbst dann, wenn die Tiere noch keinen Schaden angerichtet haben. Den vom Bundesrat vorgeschlagenen Zusatz, präventive Abschüsse nur bei «grossem» drohendem Schaden zu gestatten, strichen National- und Ständerat. Ausserdem stimmten sie für eine Kompetenzverschiebung vom Bund zu den Kantonen hinsichtlich der Abschussgenehmigung.

Schon während der laufenden Debatte warnten einige Parlamentarier – unter ihnen der ehemalige Krattiger Ständerat Werner Luginbühl –, man dürfe das Gesetz nicht überladen. Dies werde Naturschützer auf den Plan rufen und ein Referendum provozieren – und dann würde eben auch die Stadtbevölkerung ein Wörtchen mitzureden haben.

Mangelnde Solidarität aus der Stadt?
Tatsächlich hat sich bei der Abstimmung am Sonntag ein Stadt-Land-Graben aufgetan, oder besser: ein Berg-Tal-Graben. Klassische Bergkantone wie Uri, Schwyz, Graubünden und Appenzell-Innerrhoden standen klar hinter dem Jagdgesetz, während urbane Kantone im Mittelland es mehrheitlich ablehnten. Im Kanton Bern wurde die Vorlage knapp bachab geschickt, obwohl die Berggemeinden sich deutlich dafür ausgesprochen hatten. Im Verwaltungskreis Frutigen-Niedersimmental scherte einzig Spiez aus, alle anderen Gemeinden legten ein Ja in die Urne. Die deutlichste Zustimmung innerhalb des Frutiglands erhielt das Gesetz in Kandergrund (74,9 Prozent), und selbst in Krattigen war der Ja-Anteil mit 55,6 Prozent noch recht eindeutig.

Haben die Städter sich also zu wenig mit den Landbewohnern solidarisiert? Fehlt ihnen das Verständnis für die Nöte der Bergbauern? SBV-Präsident Markus Ritter würde das wohl so unterschreiben. Die Befürworter weisen diesen Vorwurf jedoch von sich. Im SRF betonten Vertreter sowohl von Pro Natura als auch von der Gruppe Wolf Schweiz, man müsse die Sorgen der Berglandwirte ernst nehmen. Für die Ausarbeitung eines «vernünftigen» Kompromisses würde man deshalb Hand bieten.

Doch ob es zu einer Einigung der zerstrittenen Parteien kommen wird, ist mehr als fraglich, und selbst wenn: Die Debatte dürfte wiederum viele Jahre andauern, wie die Erfahrung mit der nun gescheiterten Revision zeigt. Bis dahin gilt nun weiterhin das Jagdgesetz von 1986. Es stammt aus einer Zeit, in der hierzulande keine Wölfe lebten.


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