«Eine Hängebrücke mit vier stabilen Pfeilern»
20.10.2020 Frutigen, GesellschaftJUSTIZ 16 Jahre Gefängnis, die Zahlung einer Genugtuungssumme von 100 000 Franken an die Opferfamilie sowie die Übernahme der Verfahrensund Anwaltskosten: So lautet das Urteil des Regionalgerichts Oberland gegen einen 57-jährigen Frutigländer im Tötungs- und Brandfall von ...
JUSTIZ 16 Jahre Gefängnis, die Zahlung einer Genugtuungssumme von 100 000 Franken an die Opferfamilie sowie die Übernahme der Verfahrensund Anwaltskosten: So lautet das Urteil des Regionalgerichts Oberland gegen einen 57-jährigen Frutigländer im Tötungs- und Brandfall von 2018.
PETER SCHIBLI
Gespannt sassen 36 Personen (der Beschuldigte, sein Anwalt, dessen Substitut, drei Personen der Staatsanwaltschaft, zwei Polizeibeamte, 19 Zuhörerinnen und Zuhörer sowie neun Medienvertreter) am vergangenen Freitag um 10 Uhr im «BIZ-Forum» in Thun, als das fünfköpfige Gericht und die Gerichtsschreiberin den Saal betraten. Am nervösesten wirkte der Anklagte, der während des ganzen Verfahrens jeweils von zwei Polizeibeamten aus dem Untersuchungsgefängnis ins Gerichtsgebäude gefahren worden war.
Bis zum Schluss des Verfahrens hatte der Beschuldigte die ihm vorgeworfenen Taten heftig bestritten. Mehrfach beschrieb er sich als «Opfer einer Skandaljustiz», die ihn ungerechtfertigt fast 1000 Tage in Untersuchungshaft eingesperrt und seine Firma «durch Rufmord» ruiniert habe. Gegenüber der Presse sprach er von «Psychoterror» und wetterte gegen die Ermittlungsbehörden, die Staatsanwältin, das Kollegialgericht. Mehrfach fiel der Begriff eines sich abzeichnenden «Justizskandals».
Metapher als Begründung
Um 10.10 Uhr verlas Gerichtspräsidentin Dorothea Züllig von Allmen das Urteil. Nach viertägiger Beratung sei das Gericht einstimmig zu einem klaren Ergebnis gekommen: Schuldig der vorsätzlichen Tötung, begangen zwischen dem 13. und 15. Februar 2018 zum Nachteil seiner 41-jährigen Freundin; schuldig der Brandstiftung an der Reichenmattstrasse 15 in Frutigen und der (mehrfachen) Störung des Totenfriedens, verkündete sie mit ruhiger Stimme. Zwar gelte der Grundsatz «Im Zweifel für den Angeklagten» für jeden. In diesem Fall aber sei die Gesamtheit der Umstände und Anhaltspunkte (Indizien), die eine Schuld bewiesen, stärker als die Zweifel daran. Für seine Taten wurde der Beschuldigte zu 16 Jahren Freiheitsstrafe, zur Entrichtung einer Genugtuungssumme von 100 000 Franken an die Opferfamilie sowie zur Zahlung der Untersuchungs- und Anwaltskosten der Privatkläger verurteilt. Die Staatsanwältin hatte eine 17-jährige Freiheitsstrafe gefordert.
Weil Indizienprozesse für Laien schwer zu verstehen sind, griff die Gerichtspräsidentin bei der knapp dreistündigen Urteilsbegründung zu einer Methaper: Das Beweisverfahren sei «wie eine Brücke, an deren Ende eine Hängebrücke überquert werden muss». Die diesem Fall zugrunde liegende Brücke werde von vier sicheren Brückenpfeilern getragen: dem Brandgutachten, dem rechtsmedizinischen Gutachten, den Handy-Ortungsdaten sowie dem Aussageverhalten des Beschuldigten. Die vier Pfeiler hätten es dem Gericht ermöglicht, die Brücke trotz Schwierigkeiten sicher zu überschreiten und zu einem Schuldspruch zu gelangen.
Neun Indizen
In der Folge wiederholte die Gerichtspräsidentin neun von der Staatsanwältin präsentierte Indizien, die in ihrer Gesamtheit einen roten Faden ergäben und damit zu Beweisen für die Schuld des Angeklagten würden. Die neun Indizien sind:
• Gegenüber mehreren Personen hatte der Beschuldigte bestätigt, dass sich seine Freundin verletzt habe. Aus den rechtsmedizinischen Gutachten und Expertisen ergab sich, dass eine Fremdeinwirkung, beispielsweise ein Schlag auf den Kopf des Opfers, die wahrscheinlichste Todesursache sei.
• Zur Familie des Opfers mied der Beschuldigte einvernehmliche Kontakte und log. So hatte er der Mutter der Frau erklärt, seine Freundin befinde sich nach einem Sturz im Inselspital Bern. Ein Anruf der Mutter im Spital ergab, dass dies nicht stimmte.
• Aus Furcht, der Arbeitgeber seiner Freundin, die Gemeinde Frutigen, könnte die Tat entdecken, brachte er am 12. Februar nach Büroschluss wichtige Akten von der Wohnung ins Gemeindehaus und nutzte dazu den Schlüssel des Opfers.
• Zwischen dem 8. und 15. Februar (Tag des Brandes) übernachtete der Angeklagte nachweislich in der Wohnung seiner Freundin – und nicht in seiner eigenen in Reichenbach.
• Grosse Datenmengen der SIM-Karten aus den Mobiltelefonen des Beschuldigten und des Opfers zeigen eindeutige Standorte und lassen auf zusammenhängende Vorbereitungshandlungen schliessen.
• Nach der Brandstiftung floh der Beschuldigte mit seinem Camper Richtung Landesgrenze und fuhr nachts über einen unbewachten Grenzübergang nach Frankreich.
• In Frankreich angekommen, erzählte er einer Bekannten, seine Freundin sei bei einem Brand in Frutigen ums Leben gekommen und er benötige Geld sowie ein Versteck für sein Fahrzeug. Diese Angaben machte er zu einem Zeitpunkt, an dem die in der Brandruine gefundene Leiche von den Gerichtsmedizinern noch gar nicht identifiziert worden war.
• Bei seiner Rücküberstellung in die Schweiz machte der Beschuldigte gegenüber Polizisten Aussagen, mit denen er sich schwer belastete.
• Das Aussageverhalten des Angeklagten während der Ermittlungen und vor Gericht war insgesamt sehr widersprüchlich. So verweigerte er die Aussage zu Punkten, die ihn hätten entlasten können. Dieses Verhalten habe ihm nicht zum Vorteil gereicht, betonte die Gerichtspräsidentin. Statt vor Gericht auszusagen, hatte sich der Beschuldigte gegenüber Medienvertretern in Verfahrenspausen wesentlich gesprächiger gezeigt.
Wahrscheinlicher Tatverlauf
Die Gerichtspräsidentin schilderte im Folgenden einen von der Version der Anklage leicht abweichenden Tatverlauf. Allgemein bekannt war die On-off-Beziehung des Paares. Nach einem erneuten Streit Ende Januar 2018 habe die Freundin beschlossen, sich endgültig zu trennen und die Zukunft ohne ihren Partner zu planen. Infolge eines Sturzes sei sie aber arbeitsunfähig gewesen und ab dem 8. Februar vom Angeklagten zu Hause versorgt worden. Bei einer beruflichen Fahrt des Täters nach Grenchen am 13. Februar sei die Freundin mit im Auto gesessen. Am Abend, nach der Rückkehr der beiden in die Wohnung, sei es erneut zu einem heftigen Streit gekommen, in dessen Verlauf der Angeklagte seine Freundin erschlagen habe. Nach der Version der Staatsanwältin könnte diese Tat bereits fünf Tage vorher, am 8. Februar, erfolgt sein. Das Gericht traute es dem Angeklagten indes nicht zu, fünf lange Tage neben der Leiche seiner Ex-Freundin gewohnt zu haben.
Den 14. Februar nutzte der Beschuldigte nach der Tatversion des Gerichts zur Vorbereitung seiner Flucht. Er fuhr mit seinem Jeep mehrfach zwischen Frutigen, Reichenbach und dem Flugplatz hin und her. In einem Hangar hatte er seinen Camper abgestellt. Den 15. Februar verbracht er in der Wohnung seiner toten Freundin. Nach dem Mittag schüttete er in drei Zimmern Heizöl als Brandbeschleuniger aus und entzündete dieses um 15.55 Uhr. Als bei der Feuerwehr nur kurze Zeit später, um 16.03 Uhr, eine Brandmeldung einging, befand er sich bereits auf der Fahrt Richtung Hangar, von wo er den Camper holte und nach Frankreich floh. Soweit der Tatablauf, wie ihn die Gerichtspräsidentin beschrieb.
Versionen der Verteidigung
In den Beratungen hatte sich das Kollegialgericht auch eingehend mit den Tatversionen der Verteidigung befasst. Aufgrund der vorliegenden rechtsmedizinischen und brandtechnischen Gutachten schloss es einen Suizid oder einen tödlichen Sturz des Opfers jedoch aus. Auch ein Tod durch exzessiven Drogenkonsum könne aufgrund der medizinischen Erkenntnisse ausgeschlossen werden. Für die Brandstiftung komme deshalb nur der Angeklagte in Frage. Nur er habe sich zum Zeitpunkt des Brandausbruchs im alten Bauernhaus befunden. Brandstiftung durch den Hausbesitzer oder ein brennender Joint, der das Bett in Flammen setzte, könnten als Brandursache ausgeschlossen werden, befand das Gericht.
Verwerfliches Handeln
Bei der Strafzumessung im Punkt der vorsätzlichen Tötung bewertete das Gericht das verwerfliche Handeln des Täters als strafverschärfend. Schuldmindernde Umstände lägen keine vor, da der Angeklagte keine Reue zeige und auch nicht einsichtig sei. Bei der Brandstiftung habe der Beschuldigte eine erhebliche kriminelle Energie an den Tag gelegt. Da das Bauernhaus und der Körper des Opfers beim Brand total zerstört wurden, sei von einem grossen Schaden auszugehen, was sich ebenfalls strafverschärfend auswirke.
Zum Abschluss der Urteilseröffnung wandte sich die Gerichtspräsidentin direkt an den Beschuldigten. Sie bedauerte sehr, dass dieser keine direkten Worte an die leidgeprüfte Familie des Opfers geäussert hatte. Dass keine reguläre Beisetzung der sterblichen Überreste möglich war, verstärke den Schmerz der Angehörigen. Der Beschuldigte habe eine massive Strafe verdient und sei finanziell auch in der Lage, die Genugtuungsleistung sowie die Kosten des Verfahrens zu tragen, versicherte die Gerichtspräsidentin.
Der Anwalt der Privatklägerfamilie wiederholte, der Beschuldigte habe durch seine verwerflichen Handlungen schweres Leid über die Angehörigen gebracht. Es gebe keine Worte für die Rücksichtslosigkeit und Gewissenlosigkeit des Täters. Die genauen Umstände der Tat blieben im Ungewissen, was den Trauerprozess zusätzlich erschwere. Das Verbrechen würde die Familien für immer verfolgen.
Kurzes Aufbegehren des Beschuldigten
Gemäss Beschluss des Gerichts bleibt der Verurteilte vorerst für weitere sechs Monate in Sicherungshaft, da nach wie vor Fluchtgefahr bestehe. Die bisherigen 972 Tage Untersuchungshaft werden von den 16 Jahren Freiheitsstrafe abgezogen.Der Angeklagte verfolgte die Urteilseröffnung konzentriert, aber ohne äusserliche Regung. Einzig, als ihm die Gerichtspräsidentin fehlende Reue und keine Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden vorwarf, begehrte er kurz auf. Ganz zum Schluss verwahrte sich die Gerichtspräsidentin gegen den vom Angeklagten und von einzelnen Medien geäusserten Vorwurf einer «Skandaljustiz». Das Gericht habe sich in vier Tagen Urteilsberatung sehr viel Zeit genommen – und die Ermittlungsakten seien sehr umfangreich, betonte sie.
Wie geht es weiter?
Einen Tag vor der Urteilseröffnung hatte der Zürcher Anwalt des Beschuldigten beim Regionalgericht Oberland ein Ausstandsgesuch gegen die Gerichtspräsidentin, die vier Kollegialrichter und die Gerichtsschreiberin eingereicht. Begründung: Die erwähnten Personen seien befangen und dürften nicht über den Fall entscheiden. Gerichtspräsidentin Dorothea Züllig von Allmen wies das Gesuch vor der Urteilsverkündung zurück und betonte, die Richterinnen und Richter seien genügend vorbereitet, die Ablehnung der Beweisanträge sei hinreichend begründet und der Beschuldigte im «letzten Wort» nicht unzulässig beschnitten worden.
Das Ausstandsgesuch der Verteidigung geht nun an das Berner Obergericht. In einem ersten Schritt wird die Berufungsinstanz zu entscheiden haben, ob die geltend gemachten Ausstandsgründe vorlagen. Kommt das Obergericht zum Schluss, dass dies der Fall war, dann muss der Strafprozess wiederholt werden. Lehnt es das Gesuch dagegen ab, dann muss es in einem zweiten Schritt über die Berufung entscheiden, welche der Verteidiger des Angeklagten unmittelbar nach der Urteilseröffnung angekündigt hat. Das Verfahren könnte sich noch über Jahre hinziehen, da der Verteidiger am Rand des Verfahrens verlauten liess, er gehe notfalls «bis nach Strassburg».
PS