Wie die Reiskörner auf dem Schachbrett
16.10.2020 Coronavirus, GesundheitMit jedem Tag, der verstreicht, rückt die zweite Welle der Corona-Pandemie ein Stück näher. Eine alte Legende hilft dabei, die rasante Ausbreitung des Virus besser zu verstehen – und die Bedeutung früher Gegenmassnahmen zu erkennen.
MARK POLLMEIER
Es ist ...
Mit jedem Tag, der verstreicht, rückt die zweite Welle der Corona-Pandemie ein Stück näher. Eine alte Legende hilft dabei, die rasante Ausbreitung des Virus besser zu verstehen – und die Bedeutung früher Gegenmassnahmen zu erkennen.
MARK POLLMEIER
Es ist merkwürdig: Auch im Zeitalter von SMS und WhatsApp wird eine schlechte Rechtschreibung von vielen als Makel wahrgenommen. Keine Ahnung von Mathematik zu haben ist dagegen gesellschaftlich akzeptiert. Wer schon am einfachen Dreisatz scheitert, wird jedenfalls längst nicht so schräg angeschaut wie jemand, der Vogel mit F schreibt.
Doch die verbreitete Mathe-Aversion hat Folgen. Unter den Berufsfeldern mit dem grössten Fachkräftemangel finden sich auffällig viele, für die mathematische Kenntnisse unabdingbar sind, etwa Ingenieur- und Technikberufe oder IT-Jobs.
Dass Teile der Bevölkerung mit Zahlen auf Kriegsfuss stehen, zeigt sich jedoch auch im Alltag. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie geht es in der öffentlichen Debatte immer wieder um mathematische Phänomene. Derzeit ist wieder viel vom exponentiellen Wachstum die Rede, also der rasanten Zunahme der Infektionszahlen. Im Prinzip ist es ganz einfach: Jeder Infizierte steckt durchschnittlich eine bestimmte Menge neuer Personen an und sorgt so für die Weitergabe des Coronavirus. Diese Verbreitung verläuft aber nicht linear als gleichförmige Entwicklung. Vielmehr steigen die Infektionszahlen zunächst moderat – um dann explosionsartig zuzunehmen.
18 Trillionen Körner
Eine alte Legende kann dazu dienen, das Phänomen zu veranschaulichen. Ein weiser Mann aus Indien erfand einst das Schachspiel. Zum Dank gewährte ihm der Herrscher des Landes einen freien Wunsch. Statt Gold und Edelsteinen wünschte sich der Schach-Erfinder jedoch bloss Reiskörner: Für das erste Feld eines Schachbretts wollte er ein Korn, für das zweite Feld das Doppelte, für das dritte wiederum die doppelte Menge usw. Der König amüsierte sich über diesen einfältigen Wunsch, sagte aber zu, man werde ihm den Reis aushändigen. Doch dazu kam es nicht.
Ein Schachspiel hat 8 × 8, also 64 Felder. Verfährt man mit den Reiskörnern, wie der weise Mann es gewünscht hatte, kommt eine gewaltige Menge zusammen. Am Ende steht die unfassbare Zahl von 18 446 744 073 709 551 615 Reiskörnern (rund 18,45 Trillionen) – das Vielfache der weltweiten Reisernte eines Jahres.
Zurück zur Corona-Pandemie. Wie schnell sich das Virus verbreitet, hängt von der Reproduktionszahl (R) ab. Liegt R bei genau 1, heisst das: Jeder Infizierte steckt eine weitere Person an. Die Zahl der Neuansteckungen bliebe dabei konstant – ein Infizierter löst sozusagen den vorherigen ab. Gefährlich wird es, wenn R über 1 liegt, denn dann wächst die Zahl der gleichzeitig Infizierten.
Nach wenigen Wochen 60 000 Fälle
Zu Beginn der Corona-Pandemie lag die Reproduktionszahl für Covid-19 bei 3: Ein Infizierter steckte im Schnitt drei weitere an. Man kann rasch überschlagen, wie sich die Ausbreitung unter diesen Vorzeichen entwickelt. Der erste Infizierte würde drei Menschen anstecken, dann würden diese drei wiederum neun weitere Menschen anstecken, diese neun wieder weitere 27, diese 27 dann 81, die 81 wiederum 243. Ab hier wird es dann langsam unübersichtlich – das Wachstum verläuft ähnlich schnell wie in der Schachbrett-Legende. Nach nur zehn Ansteckungswellen, einem Zeitraum von wenigen Wochen, wären bereits rund 60 000 Menschen infiziert. In einem solchen Szenario wäre jedes Gesundheitswesen überfordert, auch bei der Nachverfolgung der Infektionswege. «Flatten the curve» lautete deshalb das Motto im Frühjahr, zu deutsch: Die (Ansteckungs-) Kurve zum Abflachen bringen.
Situation in Spitäler noch nicht kritisch
Die explosionsartige Ausbreitung zu verhindern, ist eigentlich gar nicht so schwierig. Die Reproduktionszahl R lässt sich gut beeinflussen – wenn die entsprechenden Massnahmen früh genug ergriffen werden und sich die Bevölkerung daran hält.
In letzter Zeit war in vielen Ländern, auch in der Schweiz, eher das Gegenteil zu beobachten. Sommerliches Wetter, tiefe Infektionszahlen und ein gewisser Ermüdungseffekt liessen viele Menschen offenbar unvorsichtig werden. Die Quittung kam prompt: Die Zahl der Neuinfektionen steigt derzeit auf hohem Niveau wieder stark an. Die zweite Welle ist dabei, sich aufzubauen – die Gesetze der Mathematik gelten weiterhin.
Trotzdem ist aktuell einiges anders als im Frühjahr, und nicht alles davon ist erklärbar. So sind die behandlungsbedürftigen Covid-19 Patienten derzeit deutlich jünger als während der ersten Welle, die Zahl der schweren Krankheitsverläufe und der Todesfälle durch Covid- 19 ist momentan tief, ohne dass Mediziner sagen könnten, warum das so ist. Möglicherweise sind die Jüngeren über die Sommermonate besonders leichtsinnig geworden.
Obwohl auch die Zahl der Hospitalisierungen zuletzt stieg, ist die Situation auch hier nicht mit jener von März / April vergleichbar. Noch kann keine Rede davon sein, dass das Schweizer Gesundheitswesen inesgsamt «am Anschlag» wäre. Doch regional ist die Lage in den Spitälern bereits angespannt, so etwa im Kanton Schwyz.
Die Behandlungsmethoden selbst haben sich im Vergleich zum Frühjahr nicht wesentlich verändert oder verbessert, dazugelernt und nachgebessert hat man allerdings bei der Organisation und der Infrastruktur der Spitäler. Der Informationsaustausch über die belegten Notfall-Betten funktioniert heute deutlich besser, Engpässe beim Material soll es nicht mehr geben.
Die Gesundheitsbehörden sind vorsichtig
Entwarnung will mit Blick auf die stark steigenden Infektionszahlen freilich niemand geben. Das Bundesamt für Gesundheit und die meisten kantonalen Behörden bezeichnen die Entwicklung als ernst – und reagieren entsprechend. In Genf wurden Versammlungen im öffentlichen Raum gerade auf 15 Personen beschränkt, Zürich hat die Maskenpflicht erneut verschärft. Und im Kanton Bern denkt man inzwischen laut über ein abendliches Ausschank- oder Alkoholverbot nach, eine Ansage, die vor allem das junge «Partyvolk» ins Visier nimmt.
Was Politiker und Behördenmitglieder antreibt, ist klar: Auf keinen Fall wollen sie in zwei, drei Wochen dastehen wie der König aus der Schachbrett-Legende. Der musste nach einigen Tagen nämlich feststellen, dass er die Menge der geforderten Reiskörner völlig unterschätzt hatte. Ein wenig Mathematik hätte ihn vor dieser Blamage bewahren können.