Zwischen Hysterie und Verharmlosung
20.10.2020 Coronavirus, Analyse«Wir können jetzt Corona», vermeldete Alain Berset in einer Medienkonferenz am 20. Mai. Nun steht das Land erneut vor dem Lockdown – und diskutiert darüber, dass dieser unbedingt vermieden werden müsse. Absurdes Theater.
Im Grunde hat der Bundesrat am Sonntag nur ...
«Wir können jetzt Corona», vermeldete Alain Berset in einer Medienkonferenz am 20. Mai. Nun steht das Land erneut vor dem Lockdown – und diskutiert darüber, dass dieser unbedingt vermieden werden müsse. Absurdes Theater.
Im Grunde hat der Bundesrat am Sonntag nur das bekräftigt, was ohnehin schon gegolten hatte. Haltet Abstand. Meidet grössere Gruppen. Und wo das nicht funktioniert: Tragt Maske. Wird das noch ausreichen, um die zweite Welle in den Griff zu bekommen? Oder wird am Ende ein erneuter Lockdown stehen?
Klar ist: Kommt es zur erneuten Zwangsschliessung, werden die wirtschaftlichen Folgen verheerend sein. Entsprechend erbittert wird um die Deutungshoheit über die Pandiemie gerungen. Die einen reden den Lockdown geradezu herbei. Nur so sei die drohende Gesundheitskatastrophe noch zu verhindern.
Die anderen bestreiten, dass es eine solche Gesundheitskatastrophe überhaupt gibt – und verweisen auf die aktuell tiefe Zahl der coronabedingten Todesfälle. Ihr Argument: Die gesundheitlichen Folgen der Pandemie seien viel weniger schlimm als die wirtschaftlichen Folgen eines weiteren Lockdowns.
Wie erbittert der Kampf um den richtigen Weg mittlerweile geführt wird, zeigte sich am Wochenende. Noch bevor der (Gesamt-) Bundesrat am Sonntag seine Beschlüsse verkündete, brachte sich Ueli Maurer bereits mit mehreren Interviews in Stellung. Man dürfe nun nicht in Panik verfallen. Einschneidende Massnahmen gelte es unbedingt zu verhindern, forderte der Finanzminister – und kritisierte in diesem Zusammenhang auch die Medien. Einige von ihnen würden lieber die Hysterie anheizen als sachlich zu berichten.
Parallel dazu forderten drei Organisationen der Notfall- und Rettungsmedizin, der Bundesrat müsse nun endlich handeln. Das zögerliche Vorgehen der Behörden sei absolut unverständlich. «Épidémie de Coronavirus: situation critique», meldete am Sonntag der Verband Spital Wallis. Wegen der grossen Zahl der COVID-Hospitalisierungen befürchtete er eine «dramatische» Überbelastung.
Mehrere Hundert Demonstranten, die zur gleichen Zeit in Bern eine Mahnwache gegen die Corona-Massnahmen abhielten, schlugen ganz andere Töne an. «Wie lange wollt Ihr diese Lüge noch aufrecht erhalten?» hiess auf einem hochgehaltenen Transparent, und: «Der Bundesrat hat mehr Leid verursacht als verhindert.» Zeitweise herrschte eine aggressive Stimmung, die Polizei schritt ein.
Das alles sind nur Schlaglichter, gewiss. Aber sie zeigen, dass das Coronavirus weit mehr bedroht als Gesundheit und Konjunktur. Die politische Führung des Landes wird offen der Lüge bezichtigt. Seriöse Wissenschaftler gelten vielen inzwischen als ahnungslose Trottel. Medien werden als gleichgeschaltet und staatshörig bezeichnet. Und das Leben älterer Menschen ist scheinbar nicht mehr viel wert, wenn es gilt, die Wirtschaft zu retten. Die lapidare Begründung: Die wären ja eh bald gestorben.
Als Privatmeinung mag so etwas noch durchgehen. Aber ein Staatswesen kann und darf auf einer solchen Grundlage keine Gesundheitspolitik machen. Nicht einmal die Schweden, auf die in diesem Zusammenhang gern verwiesen wird, würden ihr Durchseuchungsexperiment noch einmal wiederholen. Schon lange gelten dort Corona-Regeln, die den hiesigen stark ähneln.
«Die Massnahmen des Bundesrats sind um 12 oder gar 5 nach 12 Uhr erfolgt», befand gestern Rudolf Hauri, Oberster Kantonsarzt der Schweiz. Die Bevölkerung hat es nun also selbst in der Hand. Sie kann versuchen, die Pandemie in den Griff zu bekommen und so den Lockdown (hoffentlich) noch verhindern.
Oder sie diskutiert noch eine Weile über Sinn und Unsinn von Masken, feiert heimlich Feste und Partys und geht am Wochenende nach Bern, um für die Freiheit zu demonstrieren. Der Preis dafür wäre hoch. Nicht nur wäre der Lockdown dann nahezu unvermeidlich. Auch die Spaltung der Gesellschaft wäre ein gutes Stück vorangekommen.