Unsere Gesellschaft – ein Geflecht aus Furchen und Rinnen
31.12.2020 Gesellschaft, AnalyseDas Jahr 2020 hat die gängigen Konfliktlinien in der Schweiz zünftig aufgewirbelt. Das ist die wohltuende Nachricht. Die beunruhigendere: Überwunden haben wir unsere alten Denkmuster nicht. Doch genau daran sollten wir arbeiten.
Die SRF-Sendung «Arena» vom 13. März ...
Das Jahr 2020 hat die gängigen Konfliktlinien in der Schweiz zünftig aufgewirbelt. Das ist die wohltuende Nachricht. Die beunruhigendere: Überwunden haben wir unsere alten Denkmuster nicht. Doch genau daran sollten wir arbeiten.
Die SRF-Sendung «Arena» vom 13. März 2020 war wohl die langweiligste, die je ausgestrahlt wurde. Und zugleich die denkwürdigste: Nachdem der damalige SP-Präsident Christian Levrat sein Statement zur Lage der Nation abgegeben hatte, nickte sein SVP-Pendant Albert Rösti leicht mit dem Kopf, ein verbaler Konter blieb jedoch aus. In diesem Stil ging es während der gesamten Sendung weiter, die geladenen Politiker bestärkten sich gegenseitig in ihren Aussagen. Und der immer wieder geäusserte Appell, das Land möge in diesem Moment zusammenstehen, kontrastierte in seltsamer Weise mit dem Ambiente im Studio: In den sonst vollen Zuschauerrängen sassen mit gebührendem Abstand lediglich ein paar verloren wirkende Gäste und Experten.
Die Verunsicherung im «Arena»-Saal war an diesem Abend – kurz vor dem ersten nationalen Lockdown – greifbar. Sie zähmte die sonst so streitlustigen PolitikerInnen. Es herrschte eine schier gespenstische Eintracht, die noch einen ganzen Monat anhielt. So lange regierte der Bundesrat per Notrecht. Die Zeit drängte, für Parteipolitik reichte sie nicht. Mit etwas Wehmut konnte man später auf diese Wochen zurückblicken, hatten sie doch aufgezeigt, wie zielgerichtet die Politik zu handeln imstande ist. Natürlich herrschte in dieser Zeit auch ein Mangel an Demokratie, entsprechend gross war vielerorts die Vorfreude auf das Wiedererwachen der Parteipolitik: «Endlich streiten sie wieder», titelte etwa eine deutsche Wochenzeitung am 15. April.
Und natürlich dürften auch die Parteien das Ende des Bundesrat-Diktats sehnlichst erwartet haben, denn schliesslich ist der Dissens ihre Existenzgrundlage. Zumindest besagt das die Cleavage-Theorie, die in den Politikwissenschaften einen wichtigen Platz einnimmt. Eine Cleavage (Kluft / Spaltung) ist eine Konfliktlinie, die quer durch eine Gesellschaft verläuft. Sie liefert die Basis für die Entstehung von Parteien. Die Verfasser der Theorie machten in Europa nun vier solche Spaltungen aus, welche die vergangenen Jahrhunderte prägten:
• Zentrum – Peripherie: Hier ging es um die Frage, wie zentralistisch ein Staat organisiert wird beziehungsweise wie viel Unabhängigkeit er kulturellen oder territorialen Minderheiten zugestehen soll.
• Stadt – Land: Diese Kluft beschrieb die gegensätzlichen Interessen der Landwirtschaft und der Industrie.
• Staat – Kirche: Hier drehte sich die Streitfrage darum, wie viel Macht die Kirche in einem Staat innehaben soll.
• Arbeit – Kapital: Diese Cleavage beleuchtete den Klassenkonflikt zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern. Aus diesen vier Konfliktlinien sind gemäss Theorie die europäischen Parteien entstanden. Die Verfechter des Ansatzes gehen zudem davon aus, dass die Cleavages stabil sind. So könne eine etablierte Partei dauerhaft auf die Loyalität ihrer Wählerschaft zählen.
Tatsächlich gibt es Cleavages, die bis heute präsent sind: Die Konfliktlinie Zentrum – Peripherie tritt etwa bei Abstimmungsergebnissen jeweils deutlich auf und prägt gerade in ländlichen Gegenden das Denken. Was jedoch die Beständigkeit der Cleavages anbelangt, gilt die im Jahre 1967 entstandene Theorie als überholt. So finden die Sozialdemokraten ihre Stammwählerschaft längst nicht mehr in der Arbeiterschicht, sondern in gut gebildeten Bevölkerungskreisen. Auch die SVP – die ursprüngliche Bauernpartei – wird längst von Wirtschaftsvertretern wie Christoph Blocher, Roger Köppel oder Thomas Aeschi regiert. Schliesslich spricht die kürzliche Auflösung der CVP dafür, dass die Konfliktlinie zwischen Kirche und Staat heute weitgehend überwunden ist.
Die Spaltungen jedoch sind geblieben. Im Unterschied zu früher orientieren sie sich heute aber meist nicht mehr direkt an konkreten ökonomischen oder kulturellen Merkmalen, sondern an einem künstlich geschaffenen Gebilde: der politischen Links-Rechts-Skala. Sie ist sehr beweglich und dadurch auch beständig. Das zeigen die zwei grossen globalen Themen, welche die Welt derzeit beschäftigen: das Virus und das Klima. Beide Themen stiessen unsere gewohnten politischen Denkmuster zunächst vor den Kopf: Die Initianten der Klimabewegung verweigern sich bis heute einer politischen Verortung. Die Pandemie führte im Frühjahr zu einer Schockstarre, die selbst politische Gegner einte, wie die Sendung «Arena» damals eindrücklich aufzeigte. Inzwischen haben sich jedoch auch diese zwei Themen eingefügt in den Links-Rechts-Kompass: Als Klimaaktivisten im Sommer zwar friedlich, aber illegal den Bundesplatz bevölkerten, liefen rechtsbürgerliche Politiker Sturm, während linksliberale Parlamentarier beschwichtigten. Umweltschutz wird in der Bevölkerung eher als «linkes Anliegen» wahrgenommen. Auch verschärfte Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus stossen rechts nicht auf dieselbe Zustimmung wie links: Laut Umfragen stehen rechte WählerInnen staatlichen Interventionen kritischer gegenüber, weil sie das Wirtschaftswohl höher gewichten als linke WählerInnen.
Natürlich bringt die Verortung eines Themas auf der Links-Rechts-Skala erhebliche Vereinfachungen. Anstatt mich mit den unübersichtlichen Folgen einer Massnahme auseinandersetzen zu müssen, hat man einen verlässlichen Orientierungspunkt: Man ist für eine Intervention, weil sie links ist oder dagegen, weil sie von rechts bekämpft wird. Im Grunde aber ist die Hartnäckigkeit dieses Blockdenkens beunruhigend. Ganz offensichtlich werden bekannte Linien auch da gezogen, wo sie nicht hingehören: bei Themen, die uns unabhängig von unserer Parteicouleur gleich betreffen. Die alten Denkmuster stehen einerseits jener Offenheit im Wege, die nötig ist, um neue Herausforderungen zu meistern. Und sie stellen andererseits den Zusammenhalt einer Gemeinschaft auf die Probe.
Eine Gesellschaft ist kein homogenes, harmonisches Gebilde, keine zahme «Arena». Ihr Gewebe ist durchzogen von zahlreichen Konfliktlinien in Form von Rinnen und Furchen, die ineinanderlaufen, sich verzweigen – und sich dadurch auch entschärfen. Ein Landwirt beispielsweise dürfte punkto Zentralisierung mit dem Industriellen aus der Nachbarschaft einig sein. Beim Thema Umweltschutz aber fühlt er sich dem städtischen Umweltaktivisten möglicherweise näher.
Solange das Gesellschaftsgewebe elastisch bleibt, funktioniert der Zusammenhalt. Wenn die Rinnen und Furchen jedoch erstarren und sich zu unüberwindbaren Gräben vertiefen, hat die Gemeinschaft ein Problem. Die Klima- und die Pandemiedebatte haben die Distanz zwischen rechts und links tendenziell vergrössert. Mit zwei kleinen Verhaltensanpassungen können wir dieser Entwicklung etwas entgegensetzen: Erstens mit dem Verzicht auf Pauschalurteile. Grundsätzlich gilt in einer Demokratie die freie Meinungsäusserung. Gleichzeitig steht aber auch jedem Individuum frei, wie viel Gehör es den geäusserten Ansichten schenkt. Dabei sollten jene Meinungsmacher die besten Karten haben, die differenziert argumentieren. Wer hingegen die Wirtschaft, die politische Linke, die Wissenschaft oder die Medien zu einer Einheit verklumpt und diese einem einzigen Urteil unterwirft, der ist nicht glaubwürdig. Zweitens braucht es immer wieder eine Umkehr der Blickrichtung – weg von dem, was uns unterscheidet und trennt, hin zu dem, was uns verbindet und eint. Denn diese Gemeinsamkeiten werden ziemlich konsequent unterschätzt.