Der lange Weg zum Schulausbau
26.02.2021 Frutigen, PolitikSeit Mitte Februar ist es auch von aussen sichtbar: Bei der Schulanlage Widi wird gebaut, ein «Rucksack» soll endlich den dringend benötigten Platz schaffen. Vorangegangen waren jahrelange Planungen und immer neue Verzögerungen. Das Projekt ist ein Musterbeispiel, wie kompliziert und ...
Seit Mitte Februar ist es auch von aussen sichtbar: Bei der Schulanlage Widi wird gebaut, ein «Rucksack» soll endlich den dringend benötigten Platz schaffen. Vorangegangen waren jahrelange Planungen und immer neue Verzögerungen. Das Projekt ist ein Musterbeispiel, wie kompliziert und verworren Lokalpolitik sein kann.
Schüler fallen nicht plötzlich vom Himmel. Sobald ein Jahrgang geboren ist, weiss man: In sechs bis sieben Jahren werden diese Kinder ihre Schullaufbahn beginnen, und zwar meistens an dem Ort, wo ihr Elternhaus steht. Blickt man etwas weiter in die Zukunft, werden die Prognosen schwieriger. Trotzdem gibt es Anhaltspunkte. Wo gebaut wird und sich viele Familien ansiedeln, wird man mittelfristig auch mit Schülern rechnen können.
Wie sich die Schullandschaft entwickeln würde, liess sich auch in Frutigen absehen. Der Geburtsjahrgang 2014/15 umfasste 80 Kinder. Die Gemeinde wusste also: Im Schuljahr 2021/22 werden diese Kinder in die Schule eintreten, rund drei Viertel von ihnen im Zentrum, also im Widi und in Kanderbrück. Damit war klar: In der Schulanlage Widi würde man demnächst mehr Platz benötigen – zumal zum Schuljahr 2015/16 zwei neue Kindergartenklassen eröffnet worden waren.
Die Schule als Spielball der Politik
Eine naheliegende Reaktion wäre nun gewesen, den Raumbedarf zu ermitteln und rasch die nötigen Massnahmen in die Wege zu leiten. Doch so einfach und effizient funktioniert Politik selten. In Frutigen verhinderten gleich mehrere Faktoren, dass die Schulfrage schnell gelöst werden konnte.
Da war zunächst der finanzielle Aspekt. Schulbauten sind teuer, und im Gegensatz zu anderen öffentlichen Aufgaben muss eine Gemeinde sie in der Regel komplett selbst finanzieren. Viele Gemeinderäte haben deswegen eine natürliche Hemmung, solche Vorhaben anzustossen.
Ein zweiter Widerstand ergab sich aus der politischen Situation. Die Frutiger Bildungslandschaft ist seit Jahren vermintes Gelände. Aufgrund der demografischen Entwicklung kämpfen einige der kleineren, dezentralen Schulen mit sinkenden Schülerzahlen, andere sind bereits geschlossen worden. Gleichzeitig boomen die Schulstandorte im Zentrum; dort ist man bei der Klassengrösse am oberen Toleranzbereich. In der Bevölkerung rief dieses Auseinanderdriften schon länger Unbehagen hervor. Die einen hatten den Eindruck, man nehme die teils schwierige Unterrichtssituation im Widi zu wenig ernst. Die anderen wiederum fürchteten um den Fortbestand «ihrer» Schulhäuser, in denen sie vielfach selbst gross geworden waren. Für die Frutiger Politik war eine Investition ins Zentrum auch deshalb ein heisses Eisen, das man nicht leichtfertig anfasste.
Verkompliziert wurde die Schulraumfrage drittens durch eine politische Altlast: die Aula. Von dem einstigen Vorhaben, eine grössere Veranstaltungsstätte für 850 Personen zu bauen, hatte sich der Gemeinderat im Herbst 2015 intern bereits verabschiedet. Doch im Zusammenhang mit dem Platzmangel in der Schulanlage Widi erhielt das Projekt eine neue Aktualität. Teile des Gemeinderats und der Bevölkerung machten sich für eine Kompromisslösung stark: einen mindestens zweistöckigen Neubau zwischen Schulhaus und Sporthalle. Für das Erdgeschoss war – quasi als Aula-Ersatz – ein flexibel nutzbarer Saal wie in Kandersteg vorgesehen (Grössenordnung: 300 Personen an Festtischen). Im oberen Stockwerk plante man Räume für schulische Zwecke, die nach Schulschluss aber auch Vereinen zur Verfügung gestanden hätten. Der Vorteil einer solchen Mischlösung: Aus dem Schulhaus hätte man einzelne Bereiche umquartieren können, der dortige Platzmangel wäre so zumindest entschärft worden.
Letztlich kamen auch dem Gemeindesaal finanzielle Bedenken in die Quere. In einer sehr knappen Konsultativabstimmung entschieden sich die Frutiger gegen die Weiterverfolgung des Projekts. Was der Bau kosten würde, stand damals zwar noch gar nicht fest; eine grobe Schätzung belief sich auf rund fünf Millionen Franken. Doch die Angst vor den (Folge-)Kosten war gross genug, die Aula-Alternative endgültig zu beerdigen.
Viele Varianten – und kein Entscheid
Ein vierter Unsicherheitsfaktor für die Schulraumplanung war das benachbarte bzi. Der laufende Mietvertrag zwischen bzi und Kanton war nur bis 2021 geschlossen worden, der Entscheid über eine Verlängerung stand 2015/16 noch aus. Für den (unwahrscheinlichen) Fall, dass das bzi aus seinen Gebäuden ausgezogen wäre, hätte man die dortigen Räume als Schulzimmer nutzen können.
Weil der Gemeinderat nicht auf den Entscheid warten konnte, musste er den Platzmangel im Widi wohl oder übel angehen. Im Dezember 2016 lagen mehrere Lösungsvorschläge auf dem Tisch, ausgearbeitet von einer Architektengemeinschaft. Der Gemeinderat entschied, welche davon weiterverfolgt werden sollten:
• Zwei Varianten mit einem Anbau auf der Nordwest-Seite des alten Widi-Schulhauses (mit geschätzten Kosten zwischen 4,25 und 5,25 Millionen Franken),
• eine wenig flexible Variante «Aufstockung auf bestehende Turnhalle» mit geschätzten Kosten von rund 3 Millionen Franken,
• eine Variante ausserhalb des Zentrums, wobei nicht ganz klar war, wie diese konkret aussehen sollte.
Danach wurde es ruhig um die Schulraumplanung im Widi. In den letzten Monaten der Legislatur war der Gemeinderat eher damit beschäftigt, die Kündigung einer Lehrerin an der Schule Hasli zu managen. Deren Stelle konnte mangels Bewerbungen nicht wieder besetzt werden; Kinder, die bis anhin von der Lehrerin unterrichtet wurden, mussten auf die Schulen Widi und Kanderbrück verteilt werden.
Ein Lehrplan sorgt für neuen Schub
Dringlichkeit erhält die Raumfrage im Frühjahr 2018. Die Einführung des Lehrplans 21 stand bevor, und der schreibt auch neue Unterrichtsformen vor. Mit Nachdruck macht die Schulkommission auf den zusätzlichen Platzbedarf für Spezialund Halbklassenunterricht aufmerksam – vor allem im Widi. Der Gemeinderat lässt erneut Abklärungen machen, setzt Arbeitsgruppen und weitere Arbeitsgruppen «für die Planung von zusätzlichem, massvollem Schulraum» ein.
Wie schon zwei Jahre zuvor steht im Dezember 2018 erneut der Entscheid an, welche Planungsvariante denn nun realisiert werden soll: Anbau, Aufstockung – oder gar ein Neubau? Doch nichts passiert. Weil zwischenzeitlich weitere Ideen ins Spiel gebracht wurden – u. a. einen Umzug des bzi in andere Räumlichkeiten – wird der Beschluss vertagt. Man will erst noch weitere Gespräche führen und Abklärungen treffen.
Im April 2019 ist das Projekt schliesslich spruchreif. An einem öffentlichen Infoanlass präsentiert der Gemeinderat die vorgesehene Erweiterungsvariante. Favorisiert wird nun der sogenannte «Rucksack», ein vierstöckiger Anbau ans bestehende Gebäude. Zuvor hatte man noch diverse Alternativen durchgespielt, zum Beispiel, die Kapazitäten der umliegenden Schulhäuser besser zu nutzen oder eine dauerhafte Containerlösung. Nun soll definitv gebaut werden. «Ich habe es selbst lange nicht einsehen wollen, aber: Wir haben keine andere Wahl», so das Resümee des Gemeinderatspräsidenten Hans Schmid am Infoanlass. Die Kosten für das Projekt werden zu diesem Zeitpunkt mit knapp 5,9 Millionen Franken beziffert.
Am 19. Mai 2019 kommt das Ausbauprojekt an die Urne. Die Frutiger Bevölkerung stimmt der Erweiterung der Schulanlage mit 61,7 Prozent Ja-Stimmen deutlich zu. Doch der Raummangel ist längst Realität: Weil im August im Widi eine zusätzliche 3./4. Klasse eröffnet wird, reicht der Platz hinten und vorne nicht. Der Gemeinderat lässt auf dem Pausenplatz an der Rückseite des Schulzentrums fünf Containerelemente aufstellen. Bezugsfertig werden sie allerdings erst im Herbst sein.
Plötzlich 700 000 Franken teurer
Zu allem Übel verzögert sich das eigentliche Bauprojekt weiter. Im März 2020 gibt der Gemeinderat bekannt: Das Geld wird leider nicht reichen. Trotz der langen Vorlaufzeit habe sich erst während des laufenden Submissionsverfahrens gezeigt, dass einige für später geplante Sanierungen vorgezogen werden müssen. Konkret geht es um sanitäre Anlagen, die Sauberwasserzufuhr sowie die elektrischen Installationen im Altbau.
Der Gemeinderat beschliesst, den Kredit inklusive der zu erwartenden Mehrkosten von 700 000 Franken noch einmal der Urnengemeinde zu unterbreiten. Die Folge: Bis zum Entscheid werden alle Arbeiten am Projekt sistiert. Wenig später wirft die Corona-Pandemie den Terminplan über den Haufen. Die Abstimmung wird von Mai auf Juli verschoben, die Bauarbeiten in der Schulanlage Widi ruhen derweil weiter.
In der Urnenabstimmung vom 5. Juli wird der erhöhte Kredit für die Schulerweiterung angenommen – mit weniger Beteiligung der Stimmbürger, aber etwa mit dem gleichen Stimmenverhältnis. Wie bei der ersten Abstimmung im Mai 2019 stimmen 62 Prozent für die nun angepasste Kreditsumme von 6,55 Millionen Franken.
Im Herbst 2020 ist es dann so weit: Hinter dem Altbau und im Untergeschoss des alten Schulhauses beginnen die Vorbereitungsarbeiten zur Erneuerung der Schulküche. Seit Mitte Februar sind die Arbeiten auch äusserlich sichtbar: Das Baustellengelände ist eingezäunt, Mulden, Bagger und Beton sind aufgefahren worden. Teilweise können die SchülerInnen ihre gewohnten Wege nicht mehr nutzen. Und die nächsten Ausbauschritte zeichnen sich bereits ab: Am 22. Februar endete die Ausschreibungsfrist für die neuen Holzfenster des Gebäudes.
Kollateralschaden Aula
Wenn nun nichts mehr schiefgeht, werden die Bauarbeiten im Herbst 2022 abgeschlossen sein. Allein die nochmalige Kreditvorlage und die Corona-Pandemie werden dann für eine Verzögerung von mindestens 12 Monaten gesorgt haben. Wie viel Zeit in den Jahren davor ungenutzt verstrich, mag jeder selbst beurteilen. Natürlich gab es immer wieder Gründe für neue Planungen und weitere Abklärungen. An Sachzwängen herrscht in der Politik bekanntlich kein Mangel. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass der Gemeinderat in der Schulraumfrage phasenweise einen klaren Gestaltungswillen vermissen liess. Neben der stets präsenten Geldfrage spielte dabei wohl auch politisches Kalkül eine Rolle. Verständlich: An den Bäuertschulen Klassen aufzuheben und gleichzeitig Millionen in eine Zentrumsschule zu stecken, ist in Frutigen ein heikles Unterfangen. Wie gross das Erregungspotenzial der scheinbaren Ungleichbehandlung ist, zeigte sich zuletzt im März 2019. Damals strömten fast 900 Stimmberechtigte zur Gemeindeversammlung in die Widihalle, um über eine Klassenschliessung an der Schule Winklen abzustimmen.
Was nun nach langer Planung im Widi realisiert wird, ist beileibe keine Luxuslösung: Wenn er einmal fertig ist, wird der «Rucksack» auch gleich schon wieder voll sein. Man wolle auf keinen Fall auf Vorrat bauen, hatte der Gemeinderat diese passgenaue Lösung begründet. Das heisst im Umkehrschluss: Gut möglich, dass es in ein paar Jahren schon wieder zu eng wird im Widi.
Bleibt abschliessend der Blick auf einen Nebenschauplatz: die Aula. Dass diese komplett in der Versenkung verschwunden ist, damit müssen sich die «Kulturellen» wohl abfinden. Sie sind, wenn man so will, ein Kollateralschaden der Frutiger Schulpolitik.