Meister der Scherben
16.02.2021 Reichenbach, Kiental, GesellschaftSCHARNACHTAL Das Handwerk der «Chacheliflicker» gab es schon in der Antike. Auch in unserer Gegend zog manch einer von Haus zu Haus und hoffte auf Flickaufträge. Mit der industriellen Geschirrproduktion ging dieser Beruf jedoch verloren.
HANS HEIMANN
Geht heute ein ...
SCHARNACHTAL Das Handwerk der «Chacheliflicker» gab es schon in der Antike. Auch in unserer Gegend zog manch einer von Haus zu Haus und hoffte auf Flickaufträge. Mit der industriellen Geschirrproduktion ging dieser Beruf jedoch verloren.
HANS HEIMANN
Geht heute ein Teller, eine Schüssel oder ein «Häfeli» in die Brüche, dann wird das Geschirr in aller Regel weggeworfen – und rasch ist es ersetzt. Zu früheren Zeiten war das noch nicht so, als man für grosse Anschaffungen zuerst einmal sparen musste. In der vorindustriellen Zeit verwendete man das Erworbene mit grösster Sorgfalt. Zudem hatte Kachelgeschirr seinen Wert und wurde im Hause geschätzt. Wenn Gäste kamen, deckte die Hausfrau stolz den Tisch mit dem schönsten Porzellan.
Arbeitssuche von Tür zu Tür
Ging solch ein kostbarer Gegenstand kaputt, bewahrte man die «Stücki» auf, bis – meist im Frühjahr – der «Chacheliflicker», auch «Beckelimacher» genannt, an der Haustüre klopfte und fragte: «Hättet dir ou verheiti Milchbeckeli, grissni Plättli oder zerbrochene Schüsseli z'flicke?» Wenn das der Fall war, überreicht ihm die Hausfrau die «Stücki», und der Mann machte sich an die Arbeit. Dies tat er in der Regel vor dem Haus, wo ihm auch die Kinder bei der Arbeit zusehen konnten.
Zuerst passte der «Chacheliflicker» die Scherben aneinander und bohrte dann mit einem feinen Drillbohrer am Rande der Bruchstücke feine, drei Millimeter tiefe Löchlein. Anschliessend wurde die Bruchstelle mit Bohrstaub und Lehm bestrichen. Die zusammengefügten Teile wurden mittels sogenannter «Hefte», meist einem Schmiededraht, fixiert. Hierauf bestrich man die Risse mit Lehm – Leim gab es damals noch nicht –, um die Dichtigkeit des Gefässes zu verbessern und so das Tongeschirr wieder gebrauchsfertig zu machen. Am Ende wurde das Reparaturgut ins Feuer gelegt, sodass die geflickten Stellen fest wurden. Das Verfahren eignete sich allerdings nur für irdene Gefässe, die bei tieferen Temperaturen gebrannt worden waren.
Die Kosten waren nicht gross, manchmal war der wandernde Handwerker mit einer warmen Mahlzeit zufrieden oder verlangte eben noch ein paar Batzen. War seine Arbeit getan, zog er weiter – stets in der Hoffnung, an der nächsten Tür einen Auftrag zu erhalten.
Ein alter Milchkrug dient als Blumenvase
Die «Chacheliflicker» sind Kinder einer vergangenen Epoche, in der auf dem Tisch noch eine Öllampe oder Kerze brannte, in der abends in der Stube ein Spinnrad surrte, vieles noch von Hand gefertigt wurde und Kleinhandwerker von Tür zu Tür gingen, um sich ein karges Brot zu verdienen. Daran mag sich auch noch Dora Ryter in Scharnachtal erinnern: «Ich weiss noch, dass zu meiner Schulzeit der ‹Chacheliflicker› bei uns vorbeikam und auch ins Kiental ging. Er trug seine sieben Sachen in einer Hutte. Ich habe noch so einen geflickten Milchkrug von meinem Schwiegervater. Daraus wurde zum Frühstück und zum Abendessen warme Milch eingeschenkt.»
Beim genauen Betrachten erkennt man, dass dieses Gefäss mit Klammern zusammengeflickt wurde. «Der Krug ist irgendwann zerbrochen und dann von einem ‹Chacheliflicker›, der hier von Haus zu Haus gezogen ist, wieder zusammengesetzt worden.» Wie alt dieser Tonkrug ist, weiss die Scharnachtalerin nicht genau, schätzt aber, dass er wohl beinahe 100-jährig sei. Heute benutzt ihn Dora Ryter gelegentlich noch als Blumengefäss.
Der «Chacheliflicker» in der Volksliteratur
Als Haushaltsgeschirr mit Beginn des 20. Jahrhunderts aufgrund der industriellen Massenfertigung immer billiger wurde, lohnte sich eine Reparatur nicht mehr. Das Handwerk starb dadurch bereits Mitte des 20. Jahrhunderts aus.
Hinweise auf die alten Wanderreparateure findet man unter anderem in der Literatur. Eine Kurzgeschichte von Jeremias Gotthelf handelt von einem Kessel- und «Chacheliflicker». Dieser ist in Wahrheit eigentlich ein junger und wohlhabender Bauer, der sich aufmacht, eine Frau zu finden. Bei der Suche verkleidet er sich als «Chacheliflicker», weil ihm dies jeweils die Gelegenheit gibt, einen Blick in die Küche zu werfen – und damit auch auf die Bauerntochter, die dort arbeitet. Diese Geschichte mit dem Titel «Wie Joggeli eine Frau sucht» findet einen glücklichen Ausgang, und der grosse Volksdichter beendet sie nicht, ohne zu mahnen, auch im eigenen Heim stets ordentlich und gepflegt zu leben. Denn der nächste Besucher könnte grosses Glück mit sich bringen, wenn auch der Anschein vorerst ein ganz anderer ist.