«Für immer verändert»
05.03.2021 Porträt, KrattigenRita Kullmann lebte mit ihrer Familie für mehr als zehn Jahre in der Mongolei. Es mutet beinahe surreal an, welchen Schwierigkeiten sie sich in Innerasien zu stellen hatte. Einige Jahre nach der Rückkehr schrieb sie ein Buch über ihre Erlebnisse.
KATHARINA WITTWER
Rita Kullmann lebte mit ihrer Familie für mehr als zehn Jahre in der Mongolei. Es mutet beinahe surreal an, welchen Schwierigkeiten sie sich in Innerasien zu stellen hatte. Einige Jahre nach der Rückkehr schrieb sie ein Buch über ihre Erlebnisse.
KATHARINA WITTWER
Bereits ihr erster Aufenthalt in Innerasien Mitte der 1980er-Jahre war für die junge Lehrerin Rita Haas ein Abenteuer. Gemeinsam mit sechs Deutschen studierte sie mehrere Monate Mongolisch an der Universität von Hohhot, der Hauptstadt der Inneren Mongolei (siehe Karte unten rechts). Die Mongolen lebten in ihrer eigenen Heimat als kleine Minderheit und mehrheitlich in ländlichen Gebieten. In der Hauptstadt beherrschten nur noch wenige ihre Sprache. «Einer von ihnen war unser Konversations-Lehrer. Er übersetzte seinen Unterricht ins Chinesische, weil unser Dolmetscher nebst Chinesisch nur sehr schlecht Englisch konnte. Was wir verstanden, übersetzten wir in unsere Muttersprache. Dann ging das Spiel in die andere Richtung. Dass sich so schlecht Konversation betreiben lässt, ist unschwer zu erraten …», schreibt die Autorin des Buchs «Mongolische Antworten».
Den Ausländern bot sich die Möglichkeit, durch China zu reisen. «Natürlich wurden wir ständig kontrolliert. Zum einen erhielten wir als ‹Repräsentanten› unserer Heimatländer Einladungen von Regierungsvertretern und genossen Rechte, von denen Einheimische nur träumen konnten. Gleichzeitig misstraute man uns etwas, denn wir lebten in einer politisch sensiblen Grenzregion, wo die Angst vor Spitzeln allgegenwärtig war.»
Vorbereitung in England
Schnell verliebte sich Rita Haas in ihren deutschen Mit-Studenten Jürgen Kullmann. Kurz nach der Rückkehr heirateten sie. Für das Paar war klar, dass es so schnell wie möglich in die Innere Mongolei zurückkehren wollte. Englischlehrer waren in den abgelegenen Provinzen Chinas gesucht, denn das Land war im Begriff, sich zu öffnen. Die Kullmanns zogen nach Grossbritannien und erlangten dort das Sprachlehrerdiplom.
Bereits vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion (1991) war Leeds (GB) Partnerstadt von Ulaanbaatar, der Hauptstadt der Volksrepublik Mongolei, und pflegte einen Studentenaustausch. Die Kontakte mit den mongolischen Studenten waren für Kullmanns wertvoll, vor allem auch, weil sie endlich ihre Sprachkenntnisse anwenden und vertiefen konnten. Bald war für sie klar, dass sie nicht in den chinesischen, sondern in den einstmals «sowjetischen» Teil der Mongolei gehen. Doch der war bis zum Winter 1990 / 91 für Ausländer verschlossen. Deshalb blieben sie – unterdessen zu viert – in England und wirkten in einem Bibelübersetzungsteam mit. Da 1986 weder Apple noch Windows die traditionelle mongolische Schrift in ihrem Repertoire hatten, entwickelte Jürgen Kullmann mit viel Aufwand den wohl ersten Schriftsatz für dieses Alphabet.
Bei der Organisation «Weltweiter Einsatz für Christus» (WEC) bereitete sich das Paar intensiv auf seine interkulturelle Aufgabe vor. «Will man einem Volk den christlichen Glauben näherbringen, müssen Kultur und Geschichte miteinbezogen werden. Ausserdem ist das Vorleben von Nächstenliebe, Wertschätzung, Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft essenziell – man muss als gutes Beispiel vorangehen», erklärt Rita Kullmann ihre Überzeugung und die Grundidee von WEC.
Kaltstart mitten im Sommer
«Am 2. August 1991, zwei Tage vor unserem Abflug, erreichte uns vom mongolischen Konsulat in Genf die Warnung, dass wir nicht einreisen sollten. Wegen der wirtschaftlich prekären Lage könne die Universität die Verantwortung für eine Familie mit kleinen Kindern nicht übernehmen. Trotzdem flogen wir wie geplant ab.» In Hongkong erhielten Kullmanns weitere wertvolle Tipps für ihre neue Aufgabe. Den grössten Koffer mit den Winterkleidern liessen sie dort. Später sollte ihn jemand von der Organisation nachliefern.
Nach der Ankunft im auf 1350 m ü. M. gelegenen Ulaanbaatar fing die Improvisation an. «Ohne unerschütterliches Gottvertrauen wären wir all die Jahre wahrscheinlich verzweifelt», schaut Rita Kullmann zurück. Nach 70 Jahren kommunistischer Herrschaft war die Bevölkerung mit der neu gewonnenen «Freiheit» hoffnungslos überfordert. Sehr vieles funktionierte nicht mehr. Arbeitslosigkeit, Misstrauen, Korruption, Kriminalität und Neid waren weitverbreitet. Statt des abgeschafften Rubels waren Dollars erwünscht, die kaum jemand hatte. Der Handel zwischen den Sowjetrepubliken war praktisch zum Erliegen gekommen. In den Regalen der Supermärkte herrschte gähnende Leere. Von den vier Kohlekraftwerken der Stadt funktionierten noch zwei. Strom und Wasser wurden regelmässig ohne Vorwarnung abgestellt. Benzin war rar ... Diese Aufzählung könnte beliebig verlängert werden. «Wir waren von den ersten Christen im Land und hatten keinen offiziellen Status. Um die Steuern zu sparen, hatte uns der Wohnungsvermieter nicht angemeldet. Deswegen fielen wir durch alle Maschen und erhielten im ersten Jahr keine der notwendigen Lebensmittelmarken», berichtet Rita Kullmann. Schulmaterial für die Kinder hatten sie mitgenommen. Da es noch keine Bankverbindung zum Westen gab, brachte ihnen der Feldleiter aus Hongkong die Spenden der letzten Monate bei seinem Besuch mit. «Damit kamen wir wieder eine Weile über die Runden.»
Das Bauchgefühl sagte, wann Brot erhältlich war
Während Ehemann Jürgen Englischstunden gab und den Kontakt zu seinen Studenten pflegte, waren Ritas Tage ausgelastet mit dem Unterrichten ihrer Buben und vor allem mit der Organisation des Alltags. Sagte ihr das Bauchgefühl, dass es im Diplomatenladen Brot zu kaufen gab, packte sie Michaja und Samuel und ging zu Fuss oder fuhr mit einem der überfüllten Busse dorthin. Sie erklärt: «So lernte ich, auf diese göttlichen Impulse zu achten. Mit der Zeit fanden wir aber auch heraus, wo sich der Schwarzmarkt befindet.»
Von WEC kamen Leute aus aller Welt für einige Jahre ins Land. Gemeinsam organisierten sie als Nichtregierungsorganisation (NGO) Projekte wie Sprachunterricht, Gesundheitsberatung, medizinische Untersuchungen, handwerkliche Hilfe zur Selbsthilfe oder Versorgungsprogramme für Strassenkinder. Sogar ein Kinder-Tischtennisprojekt unter der Leitung einer koreanischen Olympiasiegerin wurde auf die Beine gestellt. Die NGO-Seminare über Tabuthemen wie Aufklärung und Sexualität waren in den Schulen beliebt. Alle Sozialprojekte waren für die Einheimischen kostenlos. In der Freizeit luden Kullmanns zu Bibelstunden ein.
Rückkehr für eine solide Ausbildung der Söhne
Nach zwei Jahren Homeschooling wechselten die Buben in die lokale Schule, um sozialen Austausch mit Gleichaltrigen zu pflegen. Für Samuel und Michaja war es ein Kulturschock der gröbsten Art: Mehr als 50 Kinder in einer Klasse, Frontalunterricht, Beschämung als Erziehungsstil und seitenlange Gedichte auswendig lernen. Samuels Klasse erlernte die während vieler Jahre verbotene traditionelle mongolische Schrift. «Wir waren meines Wissens die einzigen Eltern, die ihren Kindern dabei helfen konnten. Also wurde unser Sohn als Vorbild vor die Klasse gestellt.» Später lernten sie mit dem deutschen Fernunterrichtsmaterial. Um den Söhnen eine gute Ausbildung oder ein Studium zu ermöglichen, kehrte die Familie 2003 endgültig in die Schweiz zurück. Rita und Jürgen Kullmann stellen ihre interkulturelle Erfahrung seither verschiedenen Organisationen bei der Integration und Betreuung von Asylsuchenden zur Verfügung.
Mehrere Bücher herausgegeben
Kurz vor Ende ihres Studienaufenthalts übersetzten die westlichen Studenten ihr mongolisches Grammatiklehrbuch ins Deutsche. Nach zwei Jahren Leben in Ulaanbaatar fand die gebürtige Thunerin endlich Zeit, sich der Aufgabe zu widmen, ihr Erstlingswerk zu überarbeiten und zu erweitern.
Inzwischen war die Wirtschaft langsam in Fahrt gekommen. Weil man Entwicklungspotenzial witterte, kamen Studenten und Geschäftsleute aus aller Welt ins Land. Auf Anregung der Akademie der Wissenschaften verlegte Rita Kullmann ihren 460-seitigen Wälzer aber auf Englisch statt auf Deutsch. «Mongolian Grammar» wurde 1997 als bestes wissenschaftliches Buch des Jahres ausgezeichnet und ist heute in der fünften Auflage erhältlich.
Nach der endgültigen Rückkehr in die Heimat unterrichtete die ausgebildete Lehrerin Schweizer in mongolischer Sprache und schrieb hierfür das Anfängerheft «Ich lerne Mongolisch». Auf vielseitige Aufmunterung verfasste sie auf Grundlage ihrer Tagebucheinträge und der Erinnerungen vom Studienaufenthalt, von den Jahren in England und von der ersten Zeit in der Mongolei ihre Autobiografie mit dem Titel «Mongolische Antworten – für immer verändert». Alle drei Werke erschienen im Eigenverlag namens «Kullnom». Das ist eine Wortspielerei aus ihrem Familiennamen und «nom», dem mongolischen Ausdruck für Buch. Was sie zwischen die Buchdeckel verpackte, liest sich fast wie ein Krimi. Verwöhnten Westeuropäern fällt schwer zu glauben, welche Hürden sie, ihre Mitstudenten und später ihre Familie im Alltag überwinden mussten.
Den Koffer mit den Winterkleidern haben Kullmanns übrigens nie mehr gesehen. Vor dem Wintereinbruch wurde er in Hongkong irrtümlicherweise einer Sammlung für Bedürftige mitgegeben. In Ulaanbaatar betragen die Temperaturen während Monaten zwischen −20 und −35 Grad. «In unserer ersten Wohnung war es im Winter höchstens 14 Grad. Um nicht arg zu frieren, liessen wir uns warme, traditionelle mongolische Mäntel schneidern.»
Das Buch «Mongolische Antworten» ist direkt bei Rita Kullmann erhältlich. Tel.: 079 435 68 49; Mail: verlag@kullnom.ch
Mehr erfahren Sie in unserer Web-Link-Übersicht unter www.frutiglaender.ch/web-links.html
ZUR PERSON
Rita Kullmann-Haas, geboren 1960, wuchs in Thun auf. Während des Lehrerinnenseminars fand sie zum christlichen Glauben. Nach einigen Jahren Berufserfahrung verspürte sie den Drang, in ein Gebiet zu gehen, in dem man von Jesus Christus noch (fast) nichts gehört hatte. 1984 / 85 studierte sie die mongolische Sprache an der Universität in Hohhot, der Hauptstadt der Inneren Mongolei (China). Zurück in der Heimat heiratete sie den deutschen Kommilitonen Jürgen Kullmann. Das Paar zog nach England, wo die Söhne Samuel (1986) und Michaja (1987) das Licht der Welt erblickten. Nach intensiver Vorbereitung lebte und arbeitete Rita Kullmann mit ihrer Familie von 1991 bis 2003 als interkulturelle Mitarbeiterin der Organisation «Weltweiter Einsatz für Christus» (WEC) in Ulaanbaatar, der Hauptstadt der Mongolei. Heute lebt sie mit ihrem Ehemann in Krattigen.
WI


