«Zurzeit sind wir sehr gut aufgestellt»
18.06.2021 Adelboden, GesundheitDas Gesundheitsangebot der Gemeinde ist vergleichsweise gross – und wird es vorläufig auch bleiben. Langfristig drohen jedoch Abwanderung und Personalknappheit. Wie die Verantwortlichen darauf reagieren könnten, ist Thema einer aktuellen Studie.
BIANCA HÜSING
Das Gesundheitsangebot der Gemeinde ist vergleichsweise gross – und wird es vorläufig auch bleiben. Langfristig drohen jedoch Abwanderung und Personalknappheit. Wie die Verantwortlichen darauf reagieren könnten, ist Thema einer aktuellen Studie.
BIANCA HÜSING
Über den zunehmenden Ärztemangel – insbesondere auf dem Land – wurde schon viel geschrieben. Doch kaum eine Gemeinde ist so systematisch hinsichtlich ihres Gesundheitsangebots untersucht worden wie Adelboden. Von der Ersthelferin bis zum Drogisten, vom Ist-Zustand bis hin zu denkbaren Zukunftsmodellen: Joana Tanner hat sich alles ganz genau angesehen. Für ihre Masterarbeit setzte sich die Luzerner Gesundheitswissenschaften-Studentin mit der Grundversorgung in ländlichen Tourismusregionen auseinander – und zwar konkret am Beispiel Adelbodens. «Die Gemeinde ist in mehrfacher Hinsicht interessant», findet Tanner. «Einerseits steht sie vor den typischen Herausforderungen ländlicher Ortschaften: Abwanderung, Überalterung und der Schwierigkeit, medizinisches Personal zu rekrutieren.» Andererseits zeichne sich Adelboden durch seinen hohen Touristenanteil aus. Zu Spitzenzeiten leben hier dreimal so viele Menschen wie sonst – was sich freilich auch in den Arztpraxen und in der Apotheke bemerkbar macht. Ist Adelbodens Gesundheitssystem diesen Umständen auf Dauer gewachsen?
0,9 Hausärzte auf 1000 Einwohner
Aktuell ist es jedenfalls gut um die medizinische Versorgung der Gemeinde bestellt. Joana Tanner hat Einheimische und Zweitwohnungsbesitzer nach ihrer Zufriedenheit und ihren Bedürfnissen gefragt. Der Grundtenor klingt in beiden Gruppen ähnlich: Adelboden verfügt über engagierte Fachleute und ein vergleichsweise grosses Angebot. Tatsächlich ist die Gemeinde mit einer Apotheke, sechs ErsthelferInnen, drei HausärztInnen, einem Drogisten, mehreren PhysiotherapeutInnen, einer Zahnarztpraxis, einem Spitex-Stützpunkt, den Samaritern und dem Altersheim breit aufgestellt. In den Wintermonaten ist hier überdies ein Rettungsdienst stationiert.
Was die Grundversorger-/Hausarztdichte betrifft, reicht Adelboden mit 0,9 Grundversorgern pro 1000 Einwohnern recht nah an den gesamtschweizerischen Durchschnitt heran (0,95). Ähnlich sieht es mit der Apotheker- und Zahnärztedichte aus, Letztere liegt in Adelboden sogar über dem Landesschnitt. Diese Werte beziehen sich allerdings nur auf die einheimische Bevölkerung. Je mehr Feriengäste vor Ort sind und medizinische Dienstleistungen in Anspruch nehmen, desto kleiner wird die Ärzte-/Apothekerdichte. Hinzu kommt, dass freilich auch die Gesundheitsversorger und ihre Teams zwischendurch Urlaub brauchen.
Die Wege sind kurz und man kennt sich
Ein akuter Mangel scheint daraus bisher nicht zu erwachsen – zumindest nicht aus der Sicht der Patienten / Kunden. Mehr als 80 Prozent der Einheimischen und Zweitwohnungsbesitzer hält Adelbodens Gesundheitsangebot für ausreichend und ist auch mit dessen Qualität zufrieden. Vereinzelt würden sich die Befragten einen Optiker oder Augenarzt wünschen, manche wünschen sich mehr Hausärzte bzw. ein hausärztliches Angebot am Wochenende.
Für einen differenzierten Blick hat Joana Tanner sieben Fachleute aus den Bereichen Gesundheit und Verwaltung interviewt. Auch sie schätzen die aktuelle Lage grundsätzlich gut ein. Eine zentrale Stärke des hiesigen Gesundheitssystems bestehe in der Vernetzung der Anbieter und in ihrer Nähe zur Bevölkerung, sprich: Die Wege sind kurz und man kennt sich gut. Ein Manko aus Sicht einzelner Befragter ist, dass kein Augenarzt oder andere Spezialfachärzte vor Ort sind. Zudem gebe es eine gewisse Versorgungslücke an den Wochenenden.
Aktuell droht keine Ärzteknappheit
Doch die grösste Herausforderung für Adelbodens Gesundheitssystem ist die Personalsuche, wie das Beispiel Walter Bleisch zeigt. Wenn der langjährige Hausarzt Ende Juni in den Ruhestand geht, wird er seine Praxis komplett schliessen müssen. Lange hatte er nach einem Nachfolger gesucht – vergeblich. Ein typisches Problem, das sich auch über die Schweiz hinaus beobachten lässt: Immer weniger Ärzte wollen die Bürde einer eigenen Praxis mit maximaler Verantwortung und minimaler Freizeit auf sich nehmen.
Für Adelboden gibt es vorläufig jedoch Entwarnung: «Frau Dr. med. Karin Meier und ich versuchen, die medizinische Grundversorgung der Gemeinde weiter zu gewährleisten», versichert Reto König, Allgemeinmediziner in der Gemeinschaftspraxis «adeldoc». «Im Laufe des nächsten Jahres ist die Aufnahme einer dritten Ärztin in unser Team geplant.» Drei Allgemeinmediziner seien für Adelboden ideal – und zwar sowohl für die Versorgung der Einheimischen als auch der Touristen.
Doch nicht nur Ärzte sind fürs Gesundheitsangebot einer Gemeinde essenziell. Apotheker Beat Inniger betont: «Die Aufrechterhaltung leicht zugänglicher Angebote für banale Erkrankungen sowie für die rasche Besorgung spezialärztlicher Verordnungen wird für die Apotheke und Drogerie in der nächsten Zeit eine grosse persönliche und personelle Herausforderung.» Damit spielt Inniger auf die bald anstehende Pensionierung des Drogisten Marco Koller an. Doch auch für diese Herausforderung zeichnet sich eine vorläufige Lösung ab: Inniger und Koller diskutieren offenbar eine mögliche Kooperation für die nächsten Jahre.
Alle unter einem Dach?
So weit, so gut? Zumindest mittelfristig ist die Versorgung sichergestellt. Damit das so bleibt, muss man aber auch die fernere Zukunft in den Blick nehmen. Joana Tanner hat dies im Rahmen ihrer Studie getan und verschiedene Modelle verglichen: ein Gesundheitszentrum, bei dem möglichst viele Anbieter unter einem Dach sind, eine Gesundheitsregion, für die mehrere Gemeinden kooperieren müssten und eine mobile Praxis, die sich vor allem auf Hausbesuche spezialisiert. Wie Tanners Untersuchungen und auch die Rückmeldungen aus der Bevölkerung zeigen, käme das Gesundheitszentrum für Adelboden am ehesten infrage. Der Vorteil: Durch die räumliche Nähe könnten die Gesundheitsanbieter ihre grosse Stärke, die Vernetztheit, noch besser ausspielen und den Patienten eine Rundumversorgung bieten. Zudem sind längere Öffnungszeiten, gemeinsame Terminvergabe-Tools und Produkteinkäufe denkbar.
Die Gemeinde würde helfen
Doch wer wäre dafür zuständig, ein solches Gesundheitszentrum auf die Beine zu stellen? Einerseits natürlich die Anbieter selbst. Andererseits zeigt die Umfrage in der Bevölkerung: Die Gemeinde trägt eine Mitverantwortung dafür, dass das Gesundheitsangebot langfristig sichergestellt ist. «Dessen sind wir uns sehr wohl bewusst», betont Gemeinderat Toni Oester. Aus diesem Grund führe man bereits seit einigen Jahren regelmässige Gesundheitstreffen mit den Anbietern durch. «Zurzeit sind wir sehr gut aufgestellt und haben zudem das Privileg, ein Spital in Reichweite zu haben», so Oester. Langfristig sei das Gesundheitszentrum aber durchaus eine denkbare Option. Sollte dies gewünscht sein, werde die Gemeinde im Rahmen ihrer Möglichkeiten bei der Umsetzung helfen – und zum Beispiel Räumlichkeiten organisieren. Für die drei HausärztInnen bietet die «adeldoc»- Praxis im Postgebäude genügend Platz. Aber: «Weitere Räumlichkeiten, allenfalls in einem Gesundheitszentrum über der AFA, wären interessant für die Integration von Drogerie, Physiotherapie, Spitex und vor allem eines Fitnesszentrums», findet Reto König.
Klar ist: Von heute auf morgen lässt sich so etwas nicht organisieren. «Auch wenn noch kein akuter Bedarf besteht: Aufgleisen müsste man ein solches Modell möglichst früh, da die Umsetzung erfahrungsgemäss viele Jahre dauert», betont Joana Tanner.
Hausaufgaben für alle
Und welches Fazit ziehen die Beteiligten? Er sei zwar allgemein kein Fan von Studien, räumt Gemeinderat Toni Oester ein. «Aber was Joana Tanner da in aller Tiefe aufgestellt und präsentiert hat, beeindruckt mich doch sehr.» Jeder habe sich einbringen können, und auch am abschliessenden Workshop hätten sehr angeregte Diskussionen stattgefunden. «Grundsätzlich bin ich froh, dass sich der Eindruck aus einer früheren Gemeindeumfrage bestätigt hat: Die Adelbodner sind mit der Gesundheitsversorgung zufrieden.»
Apotheker Beat Inniger, der die Studie initiiert hatte, bilanziert: «Das Ziel war eine qualifizierte und neutrale Aussensicht – und das wurde klar erreicht. Es ging nie darum, ein massgeschneidertes Patentrezept zu entwickeln.» Dass sowohl die Anbieter als auch die Nutzer des Gesundheitssystems einbezogen wurden, habe ein differenziertes Bild aus verschiedenen Blickwinkeln ermöglicht. Nun ergäben sich aus der Studie verschiedene «Hausaufgaben»: Zum einen stehe die Gemeinde in der Pflicht, ihr Möglichstes im Bereich Rahmenbedingungen und Koordination beizutragen. «Ich freue mich, dass die Gemeinde ihre wichtige Rolle sieht und das Thema nicht einfach ‹dem Markt› überlassen will», so Inniger. Auch müsse die «wertvolle Idee eines Gesundheitssystems» genau ausgelotet werden. «Dies kann nicht von einem Akteur alleine getragen werden und braucht eine Basis mit Kapital – beispielsweise in Form einer Stiftung oder eines Vereins.» Auch sollten die Gesundheitsanbieter ihre gute Zusammenarbeit künftig noch vertiefen.
Joana Tanner ist ebenfalls äusserst zufrieden. «Ich bin hier sehr gut aufgenommen und unterstützt worden. Dass die Bevölkerung so gut mitgemacht hat, erleichterte meine Arbeit enorm.» Mit immerhin 29 Prozent sei die Rücklaufquote der Umfrage – verglichen mit anderen Studien – recht gross gewesen. Nun werde sie weiterhin gespannt verfolgen, wie sich Adelbodens Gesundheitssystem entwickelt – wenn auch privat. «Nachdem ich mich so intensiv mit der Gemeinde beschäftigt habe, interessiert mich persönlich sehr, wie es weitergeht.»
Wie weit ist Adelboden mit dem Impfen?
Auch im Kampf gegen Covid-19 wird das Adelbodner Gesundheitssystem beansprucht. Wie Reto König von der Praxis «adeldoc» berichtet, wird das Team bis zum 25. Juni 2375 Impfdosen verabreicht haben. «Bis dahin sind alle impfwilligen Erwachsenen immunisiert», so König. Auch viele Stammgäste hätten ihre Impfung erhalten.
Zwar war der Impftruck des Kantons auch im Lohnerdorf unterwegs, doch mit der Impfung über die Praxis sei Adelboden deutlich schneller vorangekommen als mit dem Truck. Dies bedeutete allerdings einen enormen Einsatz übers Alltagsgeschäft hinaus: «Bis am 25. Juni leistet unsere Praxis 198 Stunden reine Impfzeit und 790 Stunden Aufwand fürs Impfen inklusive der Terminvergaben/Verschiebungen und Aufklärungen», erläutert Reto König. «Dies war natürlich nur möglich, weil das Personal bereit war, zusätzlich an Abenden und an Sonntagen zu arbeiten und die ÄrztInnen in ihrer Freizeit und ihren Ferien für Impfungen zur Verfügung standen.»
HÜS