Diskriminierend oder alternativlos?

  05.11.2021 Coronavirus, Politik

Im Zentrum der zweiten Abstimmung übers Covid-Gesetz steht eindeutig die Zertifikatpflicht. Allerdings hängt noch viel mehr daran. Der «Frutigländer» zeigt auf, worum es geht – und womit Gegner und Befürworter argumentieren.

BIANCA HÜSING
Zwei Urnengänge zum selben Gesetz innerhalb weniger Monate – so etwas hat es in der Schweiz bisher nicht gegeben. Insofern kommt es am 28. November zu einer Premiere: Kurz nach seinem Ja zum Covid-Gesetz kann das Volk schon wieder darüber abstimmen. Möglich ist dies, weil sich die Vorlage seit der Einreichung des ersten Referendums geändert hat. Am 19. März dieses Jahres hat das Parlament diverse Anpassungen im Covid-Gesetz verabschiedet, die seit dem 20. März in Kraft sind. Neu geregelt wurden zum Beispiel:
• Leitlinien für den Bundesrat. Das Covid-Gesetz ist um mehrere Artikel ergänzt worden, die den Spielraum des Bundesrats begrenzen. So soll er etwa nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entscheiden und die Kantonsregierungen einbeziehen. Bevor er das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben einschränkt, muss er alle vorgelagerten Möglichkeiten wie Schutzkonzepte oder Testund Impfstrategien ausgeschöpft haben.
• Erleichterungen für Geimpfte. Geimpften wird keine Quarantäne auferlegt (es sei denn, sie sind infiziert).
• Mittagstisch für «Büezer». Im Falle eines Shutdowns dürfen sich landwirtschaftliche Mitarbeiter, Bauleute, LKW-Fahrer oder Handwerker trotzdem in Restaurants verpflegen.
• Spielraum für die Kantone. Kantonen mit stabilen Corona-Zahlen werden Erleichterungen zugestanden.
• Unterstützung für Kulturschaffende. Der Bund kann mit den Kantonen Leistungsvereinbarungen zur Unterstützung Kulturschaffender abschliessen. Auf Grundlage dieser Vereinbarungen zahlt der Bund Beiträge an Dachverbände und muss ausserdem dafür sorgen, «dass alle Kulturschaffenden, insbesondere auch Freischaffende, Zugang zur Ausfallentschädigung erhalten».
• Entschädigungen für Veranstalter. Wird ein bereits bewilligter Anlass auf behördliche Anordnung hin wieder abgesagt, kann der Bund Ausfallentschädigungen zahlen. Dies betrifft allerdings nur Publikumsanlässe von «überkantonaler Bedeutung», die zwischen dem 1. Juni 2021 und dem 30. April 2022 stattgefunden hätten. Sprich: Würde der Weltcup kurzfristig verboten, gäbe es Geld vom Bund.
• Beiträge für Kinderbetreuung. Wenn Kantone Entschädigungen an Kitas und Co. entrichten, beteiligt sich der Bund daran. Neu profitieren auch Einrichtungen öffentlicher Trägerschaft davon.
• Erweiterte Hilfen für Firmen, Angestellte und Arbeitslose. Der Kreis der Unternehmen, die Härtefallhilfen beantragen können, ist am 19. März erweitert worden. Gleiches gilt für die Kurzarbeitsentschädigung und deren Bezugsdauer. Überdies erhalten Arbeitslose zusätzliche Taggelder.
• Grundlagen fürs Corona-Zertifikat. Die umstrittentste Änderung im Covid-Gesetz betrifft die Impf- und Genesenennachweise. Der Artikel 6a stellt sicher, dass überhaupt schweizweit einheitliche Zertifikate ausgestellt werden können, die sowohl im In- als auch im Ausland anerkannt werden. Insofern ist Artikel 6a die Voraussetzung dafür, dass eine Zertifikatspflicht verhängt werden kann.

Was die Gegner sagen
Gegen die Änderungen vom März wurde erneut das Referendum ergriffen. Der Stein des Anstosses ist zweifelsohne der genannte Artikel 6a. Erst auf Basis dieses Gesetzesabschnitts konnte der Bundesrat die Zertifikatspflicht einführen, die seit Juni für Grossveranstaltungen und seit September auch für Restaurants gilt. Eine Vielzahl von Freizeitaktivitäten ist nur noch Geimpften, Genesenen oder negativ auf Covid Getesteten vorbehalten. Kritiker sehen darin eine Diskriminierung jener Menschen, die sich aus Überzeugung oder wegen Bedenken nicht impfen lassen wollen. Dies führe nicht nur zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, sondern bedeute auch eine Impfpflicht durch die Hintertür. Ohnehin sei die 3G-Regel wirkungslos, da auch Geimpfte und Genesene das Virus übertragen könnten.

Weil zu den Änderungen vom 19. März auch ein bundesweit einheitliches Contact-Tracing-System gehört, fürchten die Gegner eine «Massenüberwachung» und «Verhältnisse wie in China». Zudem erhalte der Bundesrat zu viel Macht.

Was die Befürworter sagen
Ein eigentliches Ja-Komitee gibt es nicht. Neben Bundesrat und Parlament sprechen sich auch Tourismus- und Wirtschaftsverbände für die Änderungen vom 19. März aus. Im Zertifikat sehen sie eine Möglichkeit, zur Normalität zurückzukehren, Veranstaltungen durchzuführen und zu reisen. Die 3G-Regel könne strengere Massnahmen wie einen neuerlichen Shutdown verhindern. Zudem enthalte das Gesetz Unterstützungsleistungen für Pandemiebetroffene, die im Fall einer Ablehnung gefährdet wären. Von einem Impfzwang könne laut Bundesrat keine Rede sein, da mit dem Testen eine Alternative zur Verfügung stehe. Gegen den Vorwurf der Überwachung wehrt sich die Regierung ebenso. Das Contact Tracing unterliege strengen Datenschutzrichtlinien.

Was bei einem Nein passieren würde
Sollte das Volk die genannten Änderungen im Covid-Gesetz ablehnen, blieben diese noch bis zum 19. März 2022 gültig – so schreibt es die Verfassung vor. Anschliessend gäbe es für die Ausstellung und Kontrolle von Zertifikaten keine rechtliche Grundlage mehr. Laut Bundesamt für Gesundheit kann die Schweiz dann auch keine EU-Zertifikate mehr akzeptieren, was den Grenzverkehr verkomplizieren würde. Auch die erweiterten Wirtschaftshilfen entfielen. Gegner des Gesetzes sind der Meinung, für diese Probleme könne man bis zum März neue Lösungen erarbeiten. Angesichts der üblichen Dauer parlamentarischer Verfahren ist dies jedoch eher unwahrscheinlich.


KOMMENTAR

Im besten Falle wirkungslos

Jeder, der dies für nötig hält, kann am 28. November gegen die Änderungen des Covid-Gesetzes stimmen. Genau das ist ja der Sinn und Zweck eines Referendums: einen Entscheid des Parlaments vom Volk überprüfen zu lassen. Wer ein Nein in die Urne legt, muss allerdings auch die Folgen seines Votums bedenken. Was also passiert, wenn Teile des Gesetzes im nächsten Frühjahr aufgehoben werden? Dazu ein Beispiel:
Sollte die Pandemie nach dem März 2022 wieder aufflammen, wird der Bundesrat reagieren müssen, um die Bevölkerung zu schützen und die Spitäler vor dem Kollaps zu bewahren. Weil es dann aber kein gültiges Zertifikat mehr gäbe, wäre das Gesundheitsrisiko in Menschenansammlungen nicht mehr kontrollierbar. Veranstaltungen müssten also stark eingeschränkt oder komplett verboten werden. Der Kultur-, Event- und Gastrobranche würde damit erneut der Boden unter den Füs sen weggezogen – und zwar schlimmstenfalls ohne Entschädigung. Denn auch die im Covid-Gesetz festgelegten Ausfallgelder für Veranstalter und Kulturschaffende wären bei einem Nein erst einmal hinfällig.
Natürlich kann es auch ganz anders kommen. Vielleicht sind bis zum Frühling so viele Menschen geimpft oder genesen, dass man die Pandemie für be endet erklären und auf alle Massnahmen verzichten kann. Im besten Fall wäre ein Nein zum Covid-Gesetz dann einfach nur wirkungslos.
Letztlich geht es ohnehin nur um eine kurze Zeitspanne, denn die Rechtsgrundlage für das Zertifikat wurde von vornherein auf Ende 2022 befristet. Einer Verlängerung müsste erneut die Bundesversammlung zustimmen – und auch dagegen wäre selbstverständlich wieder das Referendum möglich.

BIANCA HÜSING

B.HUESING@FRUTIGLAENDER.CH


Fünf Irrtümer übers Covid-Gesetz

Zur Abstimmung vom 28. November kursieren eine Reihe von Missverständnissen, Unklarheiten und Falschbehauptungen. Der «Frutigländer» hat sich die wichtigsten vorgenommen.

Irrtum 1: Ende November kann man das Covid-Gesetz zu Fall bringen
Das ist nicht zutreffend. Auch bei einem Nein bleiben weite Teile des Covid-Gesetzes gültig – nämlich jene, über die das Volk bereits am 13. Juni abgestimmt hat. Ende November geht es ausschliesslich um die Änderungen vom 19. März 2021 (siehe Artikel oben).

Irrtum 2: Der Bundesrat wird durch das Gesetz noch mächtiger
In Krisenzeiten muss es manchmal schnell gehen. Seit Beginn der Pandemie hat der Bundesrat daher tatsächlich häufiger im Alleingang entschieden und zum Teil auch Notrecht angewendet. Dass er durch das Covid-Gesetz noch mächtiger würde, ist allerdings nicht der Fall. Mit dem Gesetz hat er eine parlamentarisch abgestützte Rechtsgrundlage erhalten, die ihm Leitplanken für weitere Beschlüsse setzt – und ihn zum Teil sogar ausdrücklich zur Mässigung anhält. So schreiben ihm die am 19. März beschlossenen Änderungen im Covid-Gesetz beispielsweise vor, die Kantone stärker einzubeziehen. Auch wird der Bundesrat wörtlich dazu verpflichtet, «seine Strategie auf die mildest- und kürzestmögliche Einschränkung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens» auszurichten.

Bei einem Nein zu den jüngsten Änderungen im Covid-Gesetz wird dem Bundesrat andererseits keine Handlungsmacht genommen. Er könnte zum Beispiel weiterhin, gestützt auf das Epidemiengesetz, Shutdowns anordnen.

Irrtum 3: Das Covid-Gesetz ist undemokratisch zustandegekommen
Auch diese Behauptung ist nicht richtig. Das Covid-Gesetz wurde von Nationalund Ständerat mit deutlicher Mehrheit verabschiedet – ebenso wie die seither beschlossenen Änderungen und Ergänzungen. Auch ein grosser Teil der SVP-Fraktion hatte dem Gesetz und seinen Ergänzungen im Parlament zugestimmt.

Der Gesetzesartikel 6a zum Thema Zertifikat geht übrigens nicht auf den Bundesrat zurück, sondern auf den Vorstoss eines einzelnen Mitte-Parlamentariers – und auf die Bitte von Sport- und Kulturveranstaltern, die sich klare Vorgaben für ihre Anlässe gewünscht hatten. Bundesrat Ueli Maurer bedankte sich damals sogar für den Vorstoss.

Irrtum 4: Die Änderungen «führen zu einer auf Dauer angelegten Gesundheitsdiktatur»
Einmal abgesehen davon, dass das Nein-Komitee mit dem Begriff «Diktatur» den Bogen überspannt: Auch der Rest dieser Aussage stimmt nicht. Sämtliche Änderungen, die am 19. März 2021 beschlossen wurden, sind mit einem Enddatum versehen. So laufen etwa die Bestimmungen zum Corona-Zertifikat spätestens am 31. Dezember 2022 aus. Die Regelungen zu Wirtschaftshilfen und Kurzarbeitsentschädigungen enden ein Jahr später. «Auf Dauer angelegt» sind diese Änderungen also de facto nicht.

Auch die Jahreszahl 2031, die unter Gesetzesgegnern herumgereicht wird, hat mit der aktuellen Abstimmung nichts zu tun. Nicht das vollständige Gesetz ist bis 2031 gültig, sondern lediglich der Artikel 9, in dem es um die Covid-Kredite und Darlehen mit einer Laufzeit von bis zu zehn Jahren geht. Damit dieser Artikel 9 bis zum Jahr 2031 gültig sein kann, muss auch der Grundsatzartikel 1 über den Zweck des Gesetzes bis zu diesem Datum gelten. Beides wurde jedoch schon im letzten Juni vom Stimmvolk abgesegnet und steht am 28. November nicht mehr zur Debatte.

Irrtum 5: Der Bundesrat hat die Abstimmungsvorlage überfrachtet und bewusst mit den Finanzhilfen verquickt, um das Volk zur Annahme zu bewegen
Es ist üblich, Vorschriften und Massnahmen zu einem bestimmten Thema in einem einzigen Gesetz zu regeln. Der Bund hat auch zum Führerausweis, zu Verkehrssignalen und -markierungen sowie zur Autohaftpflicht keine Einzelgesetze erlassen. Stattdessen sind alle diese Punkte im Strassenverkehrsgesetz zusammengefasst.

Ähnlich verhält es sich beim Covid-Gesetz. Darin wird alles geregelt, was mit der Bekämpfung dieser spezifischen Pandemie zu tun hat. Ein Einzelgesetz für jede Massnahme zu lancieren, wäre theoretisch möglich gewesen – aber unpraktikabel und masslos. Im Übrigen hat das Parlament dem Gesetz und dem jüngsten Änderungspaket als Ganzes zugestimmt (siehe «Irrtum 3»).

BIANCA HÜSING


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